Jürgen klauke (HG.)

Sekunden – tageszeichnungen und polaroids 1975/76

Betzel verlAg 1978

 

Gerhard Johann Lischka
Die „Sekunden“



Die „Sekunden“ sind erlebte und transformierte Momente, verdichtete Erlebnisse, Erfahrungsrelikte, nicht die bloß entschwindenden Augenblicke: Sie sind die Manifestation der Subjektivität, durch welche hindurch andere Subjekte und Objekte erst sinnvoll werden und das Leben sich in seiner Zeitlichkeit demonstriert. Wie lange solche Momente auch dauern: das volle Leben überschreitet die rationalisierte Zeitmessung und macht sich an derjenigen fest, welche empfunden und nicht gewußt wird. Die klar gewußte Zeit ist das Denken um das Verstreichen der Zeit, eine zumeist unliebsame Zeit.

Selbstverständlich kann auch empfundene Zeit unliebsam sein, doch ist sie an Gefühl reich und deshalb modulier- und veränderbar. Die gewußte Zeit jedoch ist Gefühlskälte, die sich negativ ins Unbewußte hineinbohrt. Als Lange-Weile wirkt sie ertötend gegenüber den psycho-physischen Antrieben, der Energie. Die "Sekunden" sind nicht nur die verstreichende Zeit, sondern auch dieser Zeit abgerungene Produktion als Reflex auf die Momente. Erst Stützen der Gegenwart, dann Bestätigung der Vergangenheit, sind sie konzentrierte Mitteilungen eines eigenständig subjektiven, künstlerischen Weltbildes.

Machen durch bis morgens.
Die Aggressionen, selbst im engsten Kreis, werden unberechenbar … und ich bin froh, irgendwann zu Hause zu sein – vollkommen zu –, hatte mit Genuß schon nichts mehr zu tun.

Als Ressource dieser künstlerischen Produktion dient die direkte, alltägliche Erfahrung des Selbst und der Anderen, die erlebte Zeit und mit ihr die plastische Räumlichkeit. Was bei dieser Alltäglichkeit auffällt, ist ihre bewußte Gestaltung, die bis zum Exzess getriebene Erlebnisfreudigkeit und eine Produktivität, die sich an jedem Punkte der Selbsterfahrung breit macht. Vornehmlich an den zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikten, deren Transformation und Durchleuchtung, der Sexualität und der diese zärtlich umhüllenden Erotik.

Alltäglichkeit wird üblicherweise als der Trott, das Muss gesehen und erlebt … und das seltene Andere ist die Exotik, die Feier, das nicht Übliche. Das ist die Separation der Erfahrung und vor allem die Verdrängung der üblichen Zeit zu Gunsten der speziellen, für das Andere eingerichteten oder zur Verfügung gestellten Zeit. Die Alltagszeit ist die meiste Zeit (ob Arbeits- oder Freizeit), weshalb gerade sie die „Sekunden“ abgibt und nicht die künstlich oder rational begründeten Zeiten … Die Erfahrung der „Sekunden“ sind der Fluß des Lebens, wo sich auch dessen Qualität entfalten kann, die Erlebnisdichte.

Vor einem gedeckten Tisch flüchten – unerträgliche Gemütlichkeit (in „Ordnung“).
Dann bin ich froh, wenn ich in der Falle liege. Bleibe die Woche über zu Hause.

Diese steckt tief im Prozess des zwischenmenschlichen Kontakts und speziell macht sie sich am Sprechen fest. Dieses Sprechen ist das Spiel mit der Sprache, der spontane Diskurs im Zusammenprall der Gedanken. Oft die gewürzten Frechheiten der Situationskomik, die Konfrontation mit der sprachlich provozierten Exaltiertheit. Die scharfe Zunge des beißenden Kommentars, der süße Zungenschlag, der Wortschwall, die Klarheiten und Unklarheiten, die Doppelschneidigkeit des Gedankens.

Und dazu die Musik, die Phantasie nährend. Die Töne umkleiden die Situationen atmosphärisch, korrespondieren dem Rhythmus des Herzschlages. Ein Sound-Bett aus Rock, das Kopfkissen Gesang, die Matratze Rhythmusinstrumente, die Decke Melodie. Wie man sich bettet, so liegt man in diesem: let the good times roll. Tim Buckley's Sweet Surrender, and Hallo Goodby. Dann Jimmy Cliff's The harder they come, the harder they fall. Und wie sich Zarah Leander so die Liebe vorstellt.

Mußte mich gestern abend sehr zurückhalten nicht noch abzudröhnen – ich habe mir dafür einen von der Palme gedröhnt.
Koma – Amok - Maso
Thomas bringt einen „Brillanten“ vorbei, den wir am Abend werfen.
Und zwischen dem Geplänkel ein kurzer Griff zur Sofortbild-Kamera. Nun erschienen alle Actricen/Akteure innert kurzer Zeit aufs Papier gebannt als Doppel der Situation. Und mal so, mal so: „Bitte nochmals abdrücken!“ Das „Intimtheater“ wird mit wechselndem Team festgehalten. Viele schöne, absurde und komische Sekunden werden eingefroren. Ohne technische tricks, mit bescheidenem Objektiv und Blitzlicht, oft bewußt unscharf oder verwischt, bleibt ein Lächeln gebannt, ein Augenaufschlag und eine Handbewegung erhalten. Gesten und Mimik, ungestellt und ungeschminkt, spontan.

Es sind die kommenden und gehenden Mädchen, die Schönen der Nacht. Die Bekannten und die Freunde, die irgendwo nach Hause eingeladenen, von denen nur die Vornamen existieren, das nahe Du. Mani, früh, zu früh verstorben – eine Träne bleibt im Auge stecken. Robert, der Musikbesessene, Sänger Arno. Mutter Bogdan. Karl Marx mit seinen kraftvollen Bildern hinter sich. Der schöne Thomas gelangweilten Blickes. Die sanfte Claudia. „Robert“, die nur halb da ist. Dazwischen Jürgen im Bett und ein Blick aufs Fenstersims. Dann Sophie leicht schräg. Eva aufgescheucht. Und Klaus wie ein Lamm. Um den Tisch eine liebe Seßhaftigkeit …

Eine bestimmte Form von „Langeweile“ birgt viel Stoff.
Ich mache ein paar ruhige Zeichnungen über mein Gefühl von Ordnung und Unordnung.
Wenn mich jemand fragen würde, was ein solches Blatt zu bedeuten hat – ich könnte ihm keine befriedigende Antwort geben (...) – vielleicht auch unterbewußtes Psychogramm einer vorhandenen Laune.
Mal wieder eine Fig. dazwischen – gezischt.

Nacher dann zur Beruhigung, zum Weiterspüren, zur Mitteilung die Tageszeichnung (Sekundenzeichnungen), Protokoll des Gewesenen und der Vorstellung, wie es auch sein könnte. Identische Arbeit und erarbeitete Identität. Die Selbstanalyse als Analyse all dessen, was auf das Selbst einwirkt, auf die Ich-Identität, wie diese sich verfeinert und den Szenen des Unbewußten auflauert. Aus dem Sprechen die wenigen Sätze in die Schrift hinübergerettet. Ganz schlichtes Nennen der Namen, der Stimmung, der Erlebnisse. Und selten mal dazwischen einer jener Sätze, der als Spruch öfter durch die Konversation lief.

Und dann das Auslaufen der Schrift in die Zeichnung. Die hauchdünnen Linien, schwarzer Faden, der das Leben zusammennäht. Diese Schicksalsgöttin spinnt ihn, diese schneidet ihn ab. Auf unendlichen Verzweigungen und Verästelungen von der Hand gezogen, ist er das Abtasten der Umrisse, das Erspüren der Ränder und das Eintauchen in die Körperlichkeit der Welt.

Ich nehme eine ominöse, kompakte Dame mit – reichlich.
Sie erzählt in einigen Stunden mehr Wirrsinn als andere Leute im ganzen Leben.
Sie dröhnt ab.
Valeron mit Alkohol.

Der Körper ist das Zentrum, von ihm strahlen die Energien aus und zu ihm kommen sie gebündelt zurück. Der Dialog um ihn hört nie auf: Er wird verschnörkelt, heftig und zärtlich geführt, mit Attributen und ohne. Hier ist es das Gesicht, dort die Hand, dann die Lippen, Brüste, Gesäß, Phallus und Vagina, Haare und Haut. Ein Detail wird herausgearbeitet, dann ist es wieder das ganzheitliche Körperschema, das in Konnexion zum nächsten, zum Partner und/oder Partnerin kommt. Die Details meinen genau so alles, weil sie im Moment eben den ganzen Körper beherrschen, den Hintergrund, die Basis Körper brauchen. Nie losgelöst, sind es die Höhepunkte, Konzentrationspunkte, die der Moment schafft. Hier sind die „Sekunden“, die heftig pulsierend die Bewegung weitergeben an den nächsten. Und gleichfalls die entspannende Ruhe.

Einzelgänger.
Frohes Neues Jahr … mein eigener Gefangener.
Ich glaube, daß jeder seine eigene Erfindung oder wenigstens seine eigene Fiktion ist.
Ich denke die besten Verhältnisse sind die – die man hätte haben können!
Die Grenzen des Vermögens meiner Begierden nach Zärtlichkeit.

Um den eigenen Körper dreht sich alles bis hinaus ins All und aus ihm und in ihn sprühen die Funken des Erlebens. So zieht der Weg des Lebens seine Bahn. Das Selbstportrait, der Halb- und Ganzakt bleibt als Schema und Arbeitshypothese konstant, als Prinzip. Dann beginnen all die kleinen Konzepte Gestalt anzunehmen, sie sondieren, interpretieren, fangen die jeweilige Situation ein. Immer neue Formen werden gefunden, den Windungen der Erfahrungen kohärent. Der Weltentwurf am Selbst festgemacht und seinen alltäglichen Handlungen – sowohl als Demonstration der erlittenen Wunden, wie als Konstruktion der Alternativen. An was sonst könnte sich die Welt besser zeigen und mit was besser vertreten sein als mit dem je eigenen Körper? So viele Körper es auch gibt, sie sind alle anders und doch wieder so ähnlich.
Am einen Körper lernen alle. Und alle Körper sind der Eine.

Letztlich, die Damen können noch so exponiert sein, kommt der Augenblick, wo sie am liebsten 120 Portionen Grünkohl auf einmal in die Tiefkühltruhe schieben möchten.
(mit Marx)
Ich liebe euch alle.
Können vor Lachen kaum einschlafen – ausgelutscht so.
Intimes Theater, Rue d'Elsass „Die gefesselte Mara“, Akteure: Mara, Jocky, Jöjen.
Flora in eigenartiger Unkenntnis.
Es wird 8 Uhr bis ich mich zu Evelyn legen kann – schön warm – selten so geknutschtschscht.

Und der eine Körper ist polarisiert. Zwar typisch Heterosexueller, wird das ganze Spektrum des Geschlechterdialoges hineingezogen ins Selbst, was die phallisch extrapolierten Machtkonzepte unterwandert. Wo eine Öffnung ist, findet ein Finger, die Zunge, das Glied seinen Platz. Und diese werden geborgen, umfaßt. Und wo eine Spitze ist, wird sie mit Sanftheit gebrochen, mit den Rundungen entschärft, an Säften gleitet sie ab. Herrlich, das eine nie ohne das andere! Deshalb auch das Engagement für die fließenden Übergänge, klar gegen die schroffe Abgrenzung der Heldenbrust mit den Verdienstzeichen des Todes.

Ich taufte sie Petra … und meinte, ich solle ihr nicht auf's Unterhemd spritzen,
vielleicht hat sie zuwenig zum Wechseln. Ein schleierhaftes Gefühl.
Brautkleid.
Kleid für nicht Anwesende.
Mutation.

So wachsen an den Händen die Nägel, mit rotem Lack darauf schimmert sie in der Sonne. Hohe Absätze als Fetische. Eng diese Hosen über dem Gesäß. Ein Höschen als Vorwand. Feuille de rose. Darüber der sanfte Schleier und die Maske der Andersartigkeit und die Frage nach dem Wesen und seiner Veränderung, seiner Kaschierung und Transformation. Die Ehrfurcht vor dem Gesicht ließ es typisiert erscheinen als göttliches. Erahnt hinter dem Schleier ist es das Geheimnis, dem die Suche gilt. Der Schatz, der unermeßliche, der hinter vielen Türen verborgen liegt.

Und wenn ein Kleid entworfen wird, so ist es der perfekt Schutz für den Körper. Wenn ein Tisch und ein Stuhl da ist, dann nur deshalb um zwischen dem Körper und dem Raum zu vermitteln. Dann wird der Raum plastisch und seine Durchschreitung sind „Sekunden“, symbolisch für erlebte Momente.