Andreas Vorwinckel, Evelyn Weiss (Hgs.)

JÜRGEN KLAUKE – Eine Ewigkeit ein Lächeln

Arbeiten 1970/86, DuMont Buchverlag Köln 1986

Andreas Vowinckel
Jürgen Klauke – Obsession und Chiffre


I. Vorbemerkung

Als ein groß angelegter künstlerischer Entwurf entfaltet sich das Werk von Jürgen Klauke aus dem Zusammenwirken der verschiedensten Medien: von der Zeichnung über die Fotografie bis zu Performance, Video und Film. Mit Argumenten des bildnerischen analysiert er die individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit in ihren differenzierten Erscheinungsformen und Problemfeldern, indem er sie mit Hilfe von inhaltlich verschränkten, intermediären Bilderfolgen zur Anschauung bringt. Die künstlerische Arbeit gewinnt dort bereits Kontur, wo Jürgen Klauke in der Auseinandersetzung mit den traditionellen Künsten, denen er im Kontext der Grafik an der Kölner Fachhochschule Ende der sechziger Jahre begegnet, mit der Verwirklichung seiner Ideen und Perspektiven beginnt. Frühzeitig erkennt er, daß ihn die Zeichnung nicht als ästhetisches Gebilde oder als Sprachmittel um ihrer selbst willen interessiert. Empfindet er doch den ästhetischen Charakter des Grafischen als Einengung seines gedanklichen und künstlerischen Handlungsspielraums. Dennoch oder gerade darum setzt sich der Künstler zunächst intensiv mit der Zeichnung auseinander. Er befragt das Medium Zeichnung nach seinen inhaltlichen Möglichkeiten. Das heißt, mit Hilfe einer zeichnerischen Handlung, mit grafisch-räumlichen Strukturen auf der Fläche, wird die Veranschaulichung einer bestimmten inhaltlichen Aussage formal durch die Linie umschrieben. Die Linien und Strukturen einer Zeichnung sind darum Mittel der Darstellung und nicht autonom. Andererseits spiegelt die Linie als Ausdruck einer Bewegungsspur auf der Fläche immer auch ein persönliches Moment des Zeichners wider. Sie ist im traditionellen Verständnis das unmittelbarste und intimste Zeugnis, in dem sich die existentielle Befindlichkeit des Zeichners unverstellt dokumentiert.
Diese beiden tragenden Merkmale der zeichnerischen Handlung führt Jürgen Klauke auf das Wesentliche und Ursächliche in einer Zeichnung zurück. Dies zeigen bereits einige frühe Arbeiten aus der Zeit vor 1969/70. Unter diesen fällt ein Blatt auf, das als Brücke zwischen einer konventionellen und Jürgen Klaukes eigenständiger Auffassung von der Funktion der Linie angesehen werden kann: Um ein rechteckiges Feld mit einer aus Punktstrukturen räumlich-plastisch und positiv-negativ gegebenen Darstellung zumeist phallischer Motive – teilweise flächenhaft verdichtet oder räumlich zerdehnt – sind lineare Umrißzeichnungen erotisch besetzter Figurationen und mannigfache Gegenstände angeordnet.
Hier wird deutlich, daß Jürgen Klauke seinen Zeichenstil auf eine ausdrucksneutrale Linie ohne emotionale Geste und oberflächliche artistische Brillanz beschränkt. Dadurch gewinnt die Zeichnung inhaltlich die Fähigkeit einer authentischen Vergegenwärtigung des Objekthaften und formal den Charakter einer autonomen Realität des Linearen. Darin zeigt sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt der entscheidende Schritt von der nachahmenden, reproduzierenden zur Setzung einer autonomen Wirklichkeit und damit ein Bedeutungswandel in der Auffassung von der Funktion der Linie im Kontext der Zeichnung. Die Linie schafft sich hier ein ambivalentes Bewegungsfeld zwischen konkreten und abstrakten Bedeutungsebenen, die sie, bezogen auf die darzustellenden Inhalte, methodisch anschaulich macht. Obwohl traditionelle Kontexte von ganzheitlicher Darstellung und scheinbar konventionellen Zeichenstil beibehalten werden, geht Jürgen Klauke dennoch abstrakt instrumental mit der Linie und ihren Bedeutungsebenen um. Das ist das besondere Merkmal seines Zeichenstils. In der Konsequenz heißt dies, daß die lineare Umrißzeichnung einer ganzheitlichen Darstellung methodisch eine abstrakte Idee als inhaltliche Aussage verkörpert.
Der inhaltliche Charakter der frühen Zeichnungen, die stark erotisch, ambisexuell besetzt sind, verweist seinerseits nun auf die Veranschaulichung von emotional bedingten physischen und psychischen Problembereichen.

II. Obsessive Körperhandlungen

Die ersten greifbaren Ergebnisse einer eigenständigen bildnerischen Sprache und eines gewandelten erweiterten künstlerischen Denkens liegen mit der Veröffentlichung Jürgen Klauke, Ich & Ich (Tageszeichnungen & Fotos), Dinge, Situationen, Umgebungen von 1972. vor. Dieser Band enthält knapp 100 faksimilierte Zeichnungen aus der Zeit von Oktober 1970 bis Februar 1971. Ihnen sind verschiedene Gruppen thematisch aufeinander bezogener Einzeltfotos und Fotoreihen zugeordnet. Im Untertiteln nennt der Künstler diese Buch Erotographische Tagesberichte.
Die Zeichnungen sind im Unterschied zu den vorangegangenen vielfach datiert. Sie werden von Notizen begleitete, die Tagebuchcharakter besitzen, und beziehen sich auf Tagesereignisse, Gedanken, Erlebnisse, Assoziationen, Wahrnehmungen und Kommentare zu Menschen, denen der Künstler begegnet, zu Dingen, die ihn beschäftigen, zu Situationen, in denen er sich befindet, oder zu Beobachtungen, die er an sich selbst macht. Er läßt das Geschehen, die Ereignisse um ihn herum, zu Wort kommen, deren mithandelnder und protokollierender Zeuge er zugleich ist.
Nur selten ist ein Zusammenhang zwischen den tagebuchähnlichen Notizen, die am oberen oder unteren Blattrand niedergeschrieben sind, mit den Zeichnungen zu erkennen. Diese wirken vielmehr wie eine Folie, vor der die dargestellten Figuren wie auf einer Bühne handeln. Es werden somit zwei verschiedene Realitätsebenen vergegenwärtigt, deren Ereignischarakter einerseits auf die konkrete Tagesrealität und andererseits auf eine abstrakte, imaginierte Realität des Psychischen verweist. Die Systematik, mit der Jürgen Klauke Notizen und Zeichnungen über längere Zeiträume miteinander verbindet, verrät Methode.
Den Tagen, Wochen und Monaten entspricht als einer mehr oder weiniger ununterbrochenen Reihe die Abfolge der Zeichnungen, die Blatt für Blatt ohne Unterbrechung nebeneinander gesetzt sind. Der formale Zusammenhang, der so zwischen den Tagebuchnotizen und Tageszeichnungen methodisch hergestellt wird, definiert die Einzelzeichnung inhaltlich als psychisches Zeugnis des jeweiligen Tages; die Summe bildet ein Psychogramm, und aus ihm sind Fragen und Probleme nachvollziehbar, die von Tag zu Tag anders erfahren, gesehen, formuliert und dargestellt werden.
Als künstlerische Äußerungsform ist die kontinuierlich vorgetragene Parallelität von Tagebuchnotizen und Tageszeichnungen, wie sie in Ich & Ich über einen Zeitraum von fünf Monaten geleistet wird, formal ein Novum. Dies gilt auch für die fortlaufende Aneinanderreihung von in sich gültig abgeschossenen Einzelzeichnungen, die nicht als Zyklus und im traditionellen Sind aufzufassen, sind, sondern als ein breit angelegtes, sehr persönlich geprägtes Psychogramm im Rahmen einer bestimmten Zeitspanne. Hiermit gibt Jürgen Klauke der Zeichnung eine erweiterte, dialektische Dimension. Sie wird als autonomes Dokument des Subjektiven, Psychischen und als Mittel der Analyse, d.h. der Selbstanalyse in einem konzeptuellen Sinn definiert.
Motivisch begegnen sich in den Zeichnungen vorwiegend kopflose, nackte deformierte Körper mit ambisexuellen Geschlechtsausprägung. Sie sind in unterschiedlicher Weise zueinander in Beziehung gesetzt, gegeneinander gerichtet, übereinander gestülpt oder ineinander verwachsen. Bezogen auf die Frau als Mittel- und Angelpunkt der Darstellung, demonstrieren sie intersexuelle Beziehungsrituale und Libertinage als eine komplizierte, im einzelnen schwer entschlüsselbare und konfliktbeladene Frustrations- und Identitätsproblematik. Auf die Gesamtheit aller in Ich & Ich zusammengefaßten Zeichnungen übertragen, wird hier ein seelisch-körperlicher Zustand dokumentiert, der von erotischen Obsessionen selbstanalytisch geprägt ist. Was von Einzelzeichnung zu Einzelzeichnung eine sehr persönliche, intime Äußerung darstellt, gewinnt in der Summe der Zeichnungen einen objektiven Charakter – die selbstanalytische Offenlegung wird zu einer objektivierbaren Zustandsbeschreibung menschlicher Individualexistenz schlechthin.
Hier erhalten die Fotoarbeiten, die den Zeichnungen zugeordnet werden, ihr Gewicht, ihren formalen methodischen und inhaltlichen Stellenwert und ihre Begründung. In Fotosequenzen und -dokumenten veranschaulichen sie Selbstporträts, Fetischobjekte, Kinderspielzeug, Fundobjekte, zahnmedizinische Instrumente, menschenleere Orte und Architekturen, Porträts eines Mädchens, die Verschnüraktion eines weiblichen Aktes, ausgestopfte gliederlose Puppen und schließlich kriminalsoziologische Dokumente sexualneurotischer Selbstmorde.
In den beiden ersten Arbeiten zum Thema Selbstporträt sind zum Beispiel sieben nahezu identische fotografische Selbstbildnisse von Jürgen Klauke sachlich neutral festgehalten, ohne daß sich nennenswerte Unterschiede im maskenhaften Gesichtsausdruck wahrnehmen lassen. Dise Selbstablichtungen werden mit zwei Abbildungen ringgeschmückter Hände in Beziehung gesetzt. Ein anderes Beispiel zeigt in der Reihung von 23 Einzelabbildungen einen stehenden weiblichen Akt in gleichbleibender Pose, an dem sich als fortlaufende Handlung eine Verschnüraktion mit Filzresten vollzieht. thematisch strukturiert, enthalten die Fotofolgen demnach zwei Gestaltungsprämissen: erstens das Prinzip der Reihung, wobei mehrere Einzelfotos mit einer inhaltlich gleichen und doch geringfügig veränderten Abbildungsfolge eine Arbeit bilden. Zweitens dokumentiert eine technisch abbildneutrale Schwarzweißfotografie die abgelichteten Personen und Dinge, ohne sie inhaltlich zu interpretieren. Das heißt, nicht das einzelne Foto als künstlerisch gestaltetes Werk, nicht die einzelne inhaltliche Abbildung als Motiv und Thema sind wichtig, sondern die Reihung. Durch die Reihung von mehreren durchgearbeiteten Einzelfotos verlagert sich das künstlerische Interesse wie im Film als Summe unendliche vieler Einzelbilder zugunsten der Handlung von der Form auf den Inhalt. Mit Ich & Ich erforscht Jürgen Klauke das Terrain einer solchermaßen konzeptuell verstandenen Fotografie. er setzt sich mit Fragen auseinander, die vor allem sein Selbstverständnis und seine Ich-Identität betreffen: mit Gedanken, Träumen, Alpträumen seines Unbewußten, mit einem intersexuellen Rollenbewußtsein, mit Formen der Gewaltanwendung und der Ausübung des physischen Schmerzes, mit Gefühlen der Angst und der Isolation, mit dem Bild der Frau und mit Formen der Entfremdung des Weiblichen durch Klischeevorstellungen vom Schönen und Häßlichen oder mit dem Tod.
Ich & Ich formuliert und verkörpert paradigmatisch einen dialektisch aufgefaßten Kunstbegriffe, der die künstlerischen Äußerungsformen, Zeichnung und Fotografie, als Mittel der Dokumentation und Analyse von subjektiver und objektiver Wirklichkeit im Spiegel der Ich-Identität begreift.
Mit dieser Haltung geht Jürgen Klauke Anfang der siebziger Jahre einen bedeutenden Schritt über die zeitgebundene, weitgehend gesellschaftskritisch und philosophisch orientierte Auseinandersetzung innerhalb der Kunst hinaus. Inmitten einer interdisziplinären‚Expansion der Künste’, in der alle Medien, Begriffe, Vorstellungen und Methoden des Denkens und bildnerischen Handelns zur Disposition stehen, konzentriert er sich zunächst auf die eigene Person und beschränkt seinen künstlerischen Handlungsspielraum auf die für die Methodik seines Denkens und Handelns notwendigen, aufeinander bezogenen Medien ihrer Veranschaulichung: auf die Zeichnung und die Fotografie.
Dabei erfährt seine Handhabe der Fotografie als autonomes bildkünstlerisches Medium schon frühzeitig eine andere Bewertung und einen neuen Stellenwert im künstlerischen Dialog, vergleicht man sie mit der sonstigen künstlerischen praxis dieser Zeit. Denn mit Fotoarbeiten wie Self-Performance (1972), Transformer (1972/73), Verschleierungen (1973), Rot-Performance (1973/74) und anderen formuliert der Künstler seine ersten zukunftsweisenden Schlußfolgerungen. Jede Fotoarbeit weist eine ihr eigene formale Struktur auf, ein Szenario, das aus dem Handlungsablauf von einander inhaltlich zugeordneten Einzelfotos resultiert. Die wirklichkeitsnahe Ablichtung der Darstellungselemente verweigert dem Betrachter eine emotional geprägte Anteilnahme und Identifikationsmöglichkeit. Statt dessen wird die mit dem eigenen Ich inhaltlich vorgetragene Aussage, der gestaltete Körper als Bildsprache, d.h. die Körpersprache, objektiviert. Subjektive Identitätsprobleme können nun als neutral formulierte Tatbestände mit objektiver, weil letztendlich gesellschaftlicher Relevanz bildnerisch diskutiert werden
Self-Performance veranschaulicht im Einzelfoto Transsexualismus als einen Erfahrungshorizont, der aus der obsessiven Selbstbefragung der eigenen Geschlechtsidentität hervorgeht. Als Fotosequenz gewinnt diese Fragestellung einen erweiterten Horizont, indem sie auf die regressiv Tendenz der Entfremdung des Menschen von seiner Natur, bedingt durch die christliche Ethik, anspielt. Transformer enthüllt die Entfremdung als ein Problem der bürgerlichen Gesellschaft, während Rot-Performance den Vermarktungscharakter von Sexualität als aggressive Verführung offenlegt. Die Identitätsproblematik zwischen den Geschlechtern wird in M/F (1974) als entindividualisiertes Ritual der wechselseitigen Anpassung thematisiert. Doch im Unterschied zu den vorher erwähnten Arbeiten besitzt M/F eine weiterführende künstlerische Dimension, die für Jürgen Klauke zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die maskenhafte Typisierung der in Schrittbewegung aufeinander bezogenen Figuren entfremdet sie ihrer Individualität, die subjektive Realität geht in eine objektive, autonome Realität des Statuarischen über. Dieser Bedeutungswechsel definiert den Handlungsablauf inhaltlich als Ritual, formal aber als autonomes konkretes Bild mit einer ihm eigenen Ästhetik. Hiermit konstituiert der Künstler gleichzeitig eine autonome Ästhetik des fotografischen Bildes, die dialektisch auf die des Abbildes (Fotografie) bezogen ist.
Die in den Zeichnungen seit Ich & Ich selbstanalytisch erforschte und vielgestaltig veranschaulichte ambisexuell Identifikationsproblematik wird auf die Ebene der Fotoarbeiten punktuell wieder aufgegriffen In der genau inszenierten Einzelfotografie problematisiert der Künstler einzelne Fragestellungen als Ausdruck subjektiver Obsessionen, während er sie in der Sequenz als Spiegelbilder gesellschaftlich begründeter objektiver Repressionen entlarvt.
Die künstlerische Konzeption, die in diesen frühen und minutiös ausgeführten Fotoarbeiten entwickelt wird, läßt sich nur mit wenigen konzeptuellen Werkansätzen anderer Künstler vergleichen. zwar dient die Fotografie gerade auch mit dem Prinzip der Reihung seit den ersten Happening- und Fluxusaktivitäten Ende der fünfziger Jahre, besonders aber in der Concept und Body Art bei Künstlern wie Vito Acconci, Laurence Weiner, Bruce Nauman oder dem Deutschen Klaus Rinke seit Anfang der siebziger Jahre als ein vielbenutztes Mittel der Veranschaulichung eines künstlerischen Werkes. Doch hat sie hier vorrangig die Aufgabe einer Dokumentation von Ereignishandlungen, von Primärerfahrungen des eigenen Seins in der Wirklichkeit, von Wahrnehmungsdefinition und Standortbestimmung des Selbst in Zeit und Raum. Andere Künstler aus dem Umfeld der Land Art, wie Ger Dekkers, Jan Dibbets, Richard Long oder Hamish Fulton, bedienen sich der Fotografie im Einzelbild oder in der Reihung von Bildtafeln für die Dokumentation von Primärphänomenen der Natur in einem didaktischen und zugleich poetischen Sinn. Im Umgang mit dem Medium geht es ihnen nur beiläufig um die Fotografie selbst als dialektisches Mittel der Analyse und Interpretation.
Unter den wenigen Künstler, die Fotografie in einem konzeptuellen Sinn genutzt haben, vermochte vor allem Duane Michals diesem Medium seit der Mitte der sechziger Jahre neue künstlerische Dimensionen zu erschließen.
Mit seinem inhaltlich entwickelten, von Foto zu Foto aufgebauten Bildsequenzen, die meist Wünsche, Sehnsüchte, Tagträume oder Traumgedanken, Mythos und Realität poetisch veranschaulichen, wobei die fotografischen Mittel auf einen‚objektiven’ Erzählstil beschränkt sind, geht es Michals nicht um die Ausschöpfung technischer Raffinements, sondern um eine möglichst genaue Schilderung eines Handlungsablaufes und der daran gebundenen Idee.
„Ich finde die Beschränkungen, die in der Einzelaufnahme enthalten sind, enorm. Man muß Fotografie neu definieren, so wie es notwendig ist, sein Leben in bezug auf die eigenen Bedürfnisse neu zu bestimmen. Jede Generation sollte Sprache und ihre gesamten Erfahrungen von ihrem eigenen Standpunkt aus neu festlegen.“ Und: „Ich bin nicht an einem perfekten Abzug interessiert; ich bin an einer vollkommenen Idee interessiert. Vollkommene Ideen überdauern schlechte Abzüge und billige Kopien. Sie können unser Leben ändern“ (zitiert aus: Duane Michals: Real Dreams, Danbury 1976, S. 4 und 8).
Unter anderer Perspektive verfolgen Urs Lüthi und Katharina Sieverding ähnliche Absichten. aus einer Vielzahl von Einzelfotos zum Thema‚Selbstdarstellung’ erwachsen umfangreiche Fotoarbeiten, die eine bestimmte, mit der Ich-Identität beabsichtigte, über das Einzelfoto hinausgreifende Aussage beinhalten. So setzt sich Urs Lüthi eingehend mit der Problematik der Identität von Realität und Fiktion, Bewußtem und Unbewußtem in jeden Breichen auseinander, in denen das‚Ich’, noch nicht prädisponiert, sich selbst bestimmt. Demgegenüber erforscht Katharina Sieverding die reale Identät des ‚Ichs’ jenseits der Maske des ‚Gesichts’ in ihrer zeitlichen Dimension als Spiegel und Dokument von Leben.
Jürgen Klauke verfolgt diesen Künstlern nahestehende und doch grundverschiedene Absichten. Sein künstlerischer Ansatz, sein Selbstverständnis als Künstler, richtet sich nicht auf die Analyse und Erforschung des eigenen ‚Selbst’ – dies ist das vorrangige Ergebnis seines zeichnerischen Tuns. Aus der Zeichnung bezieht er die Voraussetzung für seinen Umgang mit dem Medium Fotografie.
Ohne die Erfahrungen und Einsichten, die er im Akt des Zeichnens gewinnen konnte, hätte er den Schritt zur Fotografie als einem Medium, das Distanz zwischen sich und der Wirklichkeit herstellt, nicht vollzogen. Obwohl die Fotografie zunächst nur reale Gegebenheiten der Außenwelt dokumentiert, macht sie ihr instrumentaler, d.h. spezifisch künstlerischer Umgang mit Realitätselementen dennoch für Aussagen zugänglich, die jenseits des Sichtbaren Gedanken, Gefühle und Träume, aber auch intellektuell formulierte Erkenntnisse über die eigene und gesellschaftliche Wirklichkeit beinhalten. „Ich benutzte das jeweilige Medium nur dann“, sagt Jürgen Klauke, „wenn es mir zwingend für die Sache scheint und ich damit wirklich eine andere Realitätsebene erreiche“ (Jürgen Klauke im Gespräch mit dem Autor am 12.09.1986).
Die Parallelität von Zeichnung und Fotografie, die sich schließlich auch in den Bereich der Performances erweitert, definiert bereits den Stellenwert der Medien zueinander und grenzt Jürgen Klaukes Kunstverständnis zu den vorher genannten Künstlern ab. Zeichnung und Fotografie bedingen sich bei ihm wechselseitig. Das heißt, Werkgedanken, Bildformulierungen, Handlungsabläufe bis hin zu durchkomponierten Zeichnungen, inszenierten Fotosequenzen und konsequent strukturierten Performances erwachsen aus der dialektischen Korrespondenz inhaltlich komplexer Aussagen und Werkgruppen, die aufeinander aufbauen. Immer sind es zwei Handlungsebenen, die der Künstler gleichzeitig und mit großer Virtuosität zu vergegenwärtigen weiß.
In der Zeichnung dokumentiert sich die autonome Realität der Handschrift als gebärdenhafte Entäußerung jener Gedanken, die ihn beschäftigen, sowie jener Assoziationen, die ihn zu seinen bildnerischen Formulierungen anregen.
Die Zeichnung verkörpert die Impulse des Spontanen, Wesenhaften und Eigenständigen seiner Persönlichkeit. Die Zeichnung ist nicht flüchtig, nicht abhängig von der Lichtintensität und der Dauer der Belichtung – also von der Zeit. Sie läßt Zeit, sie gibt die Möglichkeit der Entspannung, der Ruhe und Konzentration. In der Zeichnung verdichtet sich der gelebte Augenblick zu einem Ausdruckszeichen des Existentiellen, in dem sich das Innenleben selbstversichernd spiegelt. Hier entsteht Klarheit, Bewußtsein und Gewißheit über das eigene Tun. In der latenten, spannungsvollen Beziehung zu den Kräften des Unbewußten steckt die Zeichnung jenen Handlungsspielraum ab, von dem aus Jürgen Klauke zu den Fragen, die sich ihm im Kontext der Fotografie aufdrängen, Antworten entwickeln kann.
Die Fotografie hat daher von vornherein eine objektivierende Funktion. Sie ist nicht selbst Bezugsebene, sondern vorrangig Transportmittel für ausformulierte Gedanken. Aus dieser Einschätzung resultiert die Distanz, die sich zwischen Darstellung (dem Abgebildeten), dem Medium (dem Abbild) und dem Betrachter auftut. Der Künstler braucht diese Distanz, um in seinen Überlegungen und künstlerischen Absichten nicht mißverstanden zu werden. Eine solche Gefahr erwächst vor allem im Hinblick auf das fotografische Œuvre aus der methodisch gesuchten, inhaltlich aber nicht so verstandenen Identifikation mit dem Darsteller seiner Aussagen, mit dem eigenen Ich. In seiner ersten Veröffentlichung Ich & Ich stellt er im fotografischen Teil des Buches ganz unterschiedlich strukturierte Fotofolgen nebeneinander. Die Aussagen sind mit Handlungsträgern in Beziehung gesetzt, die verschiedenen Gegebenheiten des Lebens entstammen und hieraus auch ihre spezifische Wertigkeit erhalten. Auch in allen nachfolgenden Fotoarbeiten macht er sich selbst, vereinzelt auch mit Partnern, zum tragenden Darsteller der Handlung und der Aussage. Warum? Jürgen Klauke zieht aus der Einsicht in die dialektische Funktion der Zeichnung, die in eine formale, d.h. zeitlich bedingte oder inhaltliche, d.h. auf bestimmte Themen bezogene Reihe gebunden ist, eine analoge Konsequenz auch für die Fotografie. Indem er sich selbst zum Träger der Aussage macht, geht die im Einzelfoto vorhandene inhaltliche Bindung der Aussage an den Darsteller in Reihung auf den Inhalt des gesamten Handlungsablaufes über. Es vollzieht sich also eine Objektivierung des eigenen Selbst, und damit verlagert sich die Gewichtung auf die abstrakte inhaltliche Aussage der Sequenz. Hierin unterscheidet sich Klaukes Werk grundsätzlich von allen anderen künstlerischen Auffassungen im Umgang mit dem Medium Fotografie, und hier gewinnt es zugleich seien besonderen Stellenwert. Mit diesen Konzeptionen leistet es einen wegweisenden Beitrag zu jener Auffassung des fotografischen Mediums, die heute mit dem Begriff der‚Inszenierten Fotografie’ umschrieben wird. Von dieser Voraussetzung ausgehend, wird ein inhaltlich komplexes Werk entwickelt, dem es gelingt, aus der Identitätsproblematik heraus zu Grundfragen der existentiellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit vorzudringen.


III. Objektivierung des Subjektiven

Seit 1968 studierte Jürgen Klauke an der Kölner Fachhochschule, bevor er sich in den frühen siebziger Jahren ganz seiner eigenständigen künstlerischen Laufbahn widmete. Die Studienjahre wurden wesentlich von jener gesellschaftlichen Aufbruchstimmung nach 1968 geprägt, die von der Studentenbewegung ausging. eine junge Generation begann sich von ihren Vätern und damit zugleich von obrigkeitsstaatlichem Denken, von traditionellen ethischen Wertvorstellungen und bürgerlichen Weltanschauungen zu emanzipieren. Subkulturen bildeten sich als Protestpotentiale gegen die von der Bürokratie öffentlich verwaltete Kultur aus. In Köln wurde Jürgen Klauke einer ihrer Protagonisten und Kristallisationsfiguren. seine Tagebuchnotizen und Randbemerkungen geben ein schillerndes Bild von diesem existentiellen‚Befreiungsschlag’ in Permanenz, von den Ereignissen und Begegnungen, die sich in Kneipen oder in seinem Atelier abspielten. Aus diesem Ambiente, seiner ‚Pumpstation’ sozusagen, hat Jürgen Klauke nicht nur entscheidende Erfahrungen und Anregungen gewonnen, sondern auch tragende Impulse zurückgegeben.
So sind Biografie und Werk nicht voneinander zu trennen, sondern ursächlich auf einer Ebene miteinander verbunden, auf der das zeichnerische und fotografische Werk Erfahrungen nicht erst mit Erkenntnisinteresse registriert, sonder auf der aus den einsichten der eigenen Biografie bereits Schlußfolgerungen gezogen wurden und neue Denkanstöße gewonnen werden konnten. Jenseits individueller Voraussetzungen gelangt das Werk so in Bereiche, die der immanenten Entwicklung des eigenen Lebens und der Gesellschaft als Krisensymptome im Umbruch zur dritten industriellen Revolution zugrunde liegen.
In der Phase einer Neuorientierung, die alle verfügbare Lebensintensität bis zur Grenze ausschöpft, zugleich aber auch jenes Vakuum quälerisch durchleuchtet, das sich zwischen der vordergründigen Realität des täglichen Lebens und den tieferliegenden existentiellen Bewegungsgesetzen immer deutlicher abzeichnet, entstehen ein Konvolut von Tageszeichnungen und unter vielschichtigen Aspekten erarbeitete Fotosequenzen, die sich in das Medium der Performance hinein erweitern.
Die Zeichnungen erfüllen im Werkganzen eine Doppelfunktion. Sie sind originäre Dokumente der selbstanalytischen Erkenntnisarbeit und Zeugnisse von Obsessionen. Sie sind Ausdruck einer Phantasie, die in der Lage ist, einen Entwurf von sich selbst zu denken, und die sich in der zuständlichen Emotionalität ihre eigenen bildnerischen Metaphern entwickelt. Zugleich sind sie der intellektuelle Resonanzboden für jene über das eigne Selbst hinausgreifenden Einsichten in die tieferliegenden physischen und psychischen Veränderungen, denen der Einzelne und die Menschen überhaupt unterworfen sind.
1974 veröffentlicht Jürgen Klauke im Verlag der Galerie ak in Frankfurt unter dem Titel FAG-HAG die Reproduktionen von Tuschfederzeichnungen auf Transparentpapier, die als zusammenhängendes Konvolut rückwärtslaufend nummerierter Seiten von 1000 bis 883 eine in sich abgeschlossene Arbeit bilden. FAG-HAG ist das Ergebnis einer schrittweise erfolgten Erweiterung der individuellen Zeichensprache. Fest umrissen und aus äußerst präzis gesetzten Linien entwickelt, hat die Zeichnung ihre dialektische Funktion nicht gewandelt, wohl aber hat sie ihre Sprachfähigkeit erweitert. Hierbei treten als wichtigste Faktoren in der Reihung der Bilder Handlungsmomente auf, die sich aus den unterschiedlichen Zustandsformen der dargestellten Figurenkonstellationen als Metamorphosen, Transformationen, Analogien herauskristallisieren und mit denen unterschiedliche Seinsformen auf ihre Bedeutung hin untersucht werden. Sie manifestieren sich als Aggregatzustände des Psychischen im Spiegel einer obsessiv erfahrenen, physischen Realität. In der bildnerischen Prägnanz der Reihung enthüllen sie die Relativität der Begrifflichkeit, der Worte, und dokumentieren die verbale Erfahrung in ihrer totalen Verfügbarkeit und Unverbindlichkeit.
Indem der Künstler diesen Zeichnungen einen poetisch formulierten Gedanken voranstellt und ihnen eine persönliche Aussage am Schluß hinzufügt, präzisiert er den inhaltlichen Horizont seiner Fragen jenseits einer konventionellen Sprachnorm.
„Eine Tür stand offen. Aus einem Spalt drang Liebe“.
„Manchmal begegnet mir Zärtlichkeit, die mich erschreckt“.
Stichworte wie‚Zustandformen von Figurenkonstellationen’ in Bilderreihungen oder‚Aggregatszustände des Psychischen’ sind Aspekte, die in einigen Fotosequenzen wie Begegnung und Einzelgänger (beide von 1975) oder in Die Lust zu leben (1976) ausgearbeitet und in der Veröffentlichung Sekunden von 1975 inhaltlich auf einer neue Ebene hin erweitert werden. Die bewußte Konfrontation mit dem‚Ich’ und nicht mehr mit dem‚Es’ des eigenen Selbst zeigt den wichtigen Schritt, den Jürgen Klauke hier nicht nur methodisch vollzogen hat. Zwar führen auch die zuerst genannten Fotosequenzen diese Grundthematik eines komplizierten Beziehungszusammenhangs zwischen Ich & Ich in minutiös ausgearbeiteten Positionen vor, aber ihre eigentliche Intention geht dennoch weit über diesen Aspekt hinaus. Die Bilderfolgen schildern einen äußerlich ablesbaren Handlungsablauf. Tatsächlich wird durch die Dynamik der Bewegungen und die Dramatik des Geschehens, das auf einen Höhepunkt zuläuft, eine vom Darsteller unabhängige und über die Handlung hinausweisende Idee thematisiert: Aggression, Aggressivität in zwischenmenschlichen Beziehungen, Anwendung und Ausübung von Gewalt, Rivalität, Zerstörung und Tod.
Jürgen Klauke arbeitet mit Simulationstechniken, die er mit äußerster Genauigkeit auf die jeweils geforderte Geste und Pose, auf den entsprechenden Inhalt der Aussage anwendet. Darin kommt das hohe Niveau seiner künstlerischen Sprache zum Ausdruck. Die gedankliche Klarheit, die Konzentration und Disziplin, mit der jene Momente anschaulich gemacht werden, die der Verdeutlichung der beabsichtigen Aussage dienen, geben den Einzelfotos ebenso wie den Sequenzen ihre provokative Kraft. In den Fotosequenzen Bewegung und Einzelgänger sind es eben die Dynamik der Bewegungen und die Dramatik des Handlungsablaufs, die eine äußerste Zuspitzung der Aussage ermöglichen.
Diese für Klauke inszenierte Fotografie kennzeichnende Methode kehrt sich in einer anderen Arbeit um: Alleinsein ist eine Erfahrung von immer weniger (1975) – schon der Titel sagt einiges über den Charakter und die Perspektive der Fotosequenz aus – spielt in einem realen Raum. Neun verschiedene Sitzposen um einen Tisch signalisieren eine Verbindung mit dem Faktor Zeit. Die Statik der unterschiedlichen Sitzposen, die trotz der Reihung von Einzelfotos zu einer Sequenz keine Handlung ergeben, drückt Zustände aus, deren existentieller Bezug sich auf den Handelnden projiziert: Isolation im geschlossenen Raum führt zur Selbstzerstörung.
Zum ersten Mal argumentiert Jürgen Klauke hier mit realistischen Element, um gerade auch mit ihrer Hilfe eine abstrakte Aussage als Ausdruck einer Erfahrung zu formulieren: Isolation in ihrer kategorialen Abhängigkeit von Raum und Zeit. Hier wird deutlich, wie konsequent der Künstler von Arbeit zu Arbeit einen methodisch gangbaren Weg sucht, um die Analyse der eigenen Befindlichkeit gegenüber den realen Gegebenheiten seiner Umwelt zu erweitern. Denn seinem dialektisch ausgerichteten Kunstbegriff entspricht eine immer wieder neu gesetzte Herausforderung an das eigene künstlerische tun.
Die Erfahrung von Zeit, die Flüchtigkeit der Sekunde, Zeit beobachtet in den verschiedensten Zustandsformen von Leben, von Realität und Imagination, gewinnt in den Arbeiten, die seit Mitte der siebziger Jahre entstehen, einen besonderen Stellenwert. Sie wird Thema einer Auseinandersetzung, in der es um die Standortbestimmung des eigenen Selbst im gesellschaftlichen Raum geht. Ein Beispiel ist die Arbeit Sekunden, bestehend aus Zeichnungen und Fotos der Jahre 1975/76, die 1978 veröffentlicht wurden. Differenziert ausgearbeitete, inhaltlich zusammenhängende Gruppen von meist erotischen Zeichnungen sind Gruppen authentischer Tag- und Nachtfotos – als‚Sekunden’ mit der Sofortbildkamera im eigenen Atelier aufgenommen – konfrontiert.
Der konzeptuelle Charakter der Zeichnungen, die auf verschiedenen inhaltlichen Ebenen mentale, physische und psychische Seinszustände sowie Zustandsveränderungen des Selbst in statischen Fixierungen als dynamische Prozesse beschreiben, kontrastiert zu dem flüchtigen Augenblickscharakter der Fotografien. Jürgen Klauke verknüpft so in methodischer Absicht imaginierte Bilder von Gedanken und Gefühlen, von Assoziationen, die an Körpererfahrungen gebunden sind, mit Momenten realer, gelebter Zeit. Er zieht das Abstrakte und das Reale, subjektiv individuelle und objektiv soziale Fakten der existentiellen Befindlichkeit als Kriterien seiner bildnerischen Bestimmung des Phänomens‚Zeit’ heran:‚Zeit’ wird auf diese Weise als ein in sich widersprüchliches Phänomen im Spiegel von Leben manifest.
So werden grundlegende Fragen der Deutung und der Bedeutung aufgeworfen, die das Phänomen‚Zeit’ im persönlichen und öffentlichen Leben einnimmt. Die Arbeit umkreist als von‚Zeit’, die für das Leben in all seinen Ebenen existentiell relevant ist. Gerhard Johann Lischka schreibt hierzu: „Und wenn ein Kleid entworfen wird, so ist es der perfekte Schutz für den Körper. Wenn ein Tisch und ein Stuhl da ist, dann nur deshalb um zwischen dem Körper und dem Raum zu vermitteln. Dann wird der Raum plastisch und seine Durchschreitung sind‚Sekunden’, symbolisch für erlebte Momente.“ (zitiert nach‚Die Sekunden’, Vorbemerkung zu Jürgen Klauke: Sekunden, Wiesbaden 1978).
Die konzeptuelle Struktur des Buches Sekunden definiert somit letztendlich die Zeichnungen und Fotos sowohl einzeln als auch im Zusammenhang als Metaphern für die Idee‚Zeit’ am Beispiel von‚Sekunden’, die sonst im realen Leben nur an den Gesetzen der Natur abstrakt nachvollziehbar sind: Zeit als Ausdruck der Bewegung eines Körpers im Raum.

IV. Das Selbst im Spannungsfeld gesellschaftlicher Konflikträume

Unter den Zeichnungen der Folge Sekunden ist eine Blattserie mit dem Titel Sexualität und oder als Gewalt enthalten. Darin setzt sich Jürgen Klauke explizit mit Themen wie Liebe, Sexualität und Gewalt, Gewaltandrohung, Unterdrückung und Ausbeutung auseinander. Die Schärfe und Genauigkeit der Zeichnung sowie die Eindeutigkeit der dargestellten Inhalte korrespondieren unmittelbar zur Prägnanz der Konfliktanalyse, die in zahlreichen Fotosequenzen mit jeweils verschiedenen inhaltlichen Akzentuierungen diskutiert wird. So thematisiert Schlußfolge/Schlußfolge beispielhaft die Idee der Gewalt und Gewaltandrohung auf drei verschiedenen inhaltlichen Bezugsebenen: Schußrichtung gegen sich selbst – Selbstmord, Schußrichtung gegen einen Dritten – Mord oder Notwehr, Schußrichtung gegen den Betrachter – totaler Angriff ist das beste Mittel der Verteidigung des eigenen Selbst, so könnte man interpretieren. Der Künstler setzt hier das fotografische Medium erstmals in verschiedenen Sinn- und Reflexionsebenen ein. Die Fotosequenz wird auf diese Weise – jenseits der Darstellungen in den Einzelfotos – ein Mittel der Aufklärung, mit dem in bezug auf die gesellschaftliche Relevanz des Themas die Schlußfolgerung gezogen wird: der Betrachter ist nicht mehr nur Beobachter, der an den dargestellten Vorgängen und dahinter verborgenen Überlegungen teilnehmen kann, sondern hier ist er selbst Betroffener und trägt Mitverantwortung.
Diese Thematik setzt sich in weiteren Arbeiten fort. So werden in Grüße vom Vatikan (1976) durch das eigene Selbst hindurch gesellschaftliche Mechanismen der Deformation des Menschen im Namen der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung und der Erlösung analysiert. In einer anderen Arbeit, Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/77), greift der Künstler die Interpretation von Identitätsklischees auf, um sie auf ein pervertiertes gesellschaftliches Rollenverständnis des Individuums zu übertragen. Fotografie als Waffe, so könnte die künstlerisch präzis formulierte Strategie von Jürgen Klauke umschreiben werden, die sich aber nicht auf das Niveau der Indoktrination begibt, sondern mit der Logik einer von Einzelfoto zu Einzelfoto veranschaulichten Argumentation gesellschaftliche Phänomene analysiert und deren Schwachstellen entblößt. Die Dialektik der formalen/inhaltlichen Struktur, d.h. der präzise Abstraktionsgrad der Darstellungsinhalte werden an diesen Arbeiten besonders deutlich.

V. Entindividualisierung des Selbst

Gegen Ende der siebziger und am Beginn der achtziger Jahre erreicht die Werkentwicklung eine äußerste Konzentration auf elementare gesellschaftliche Fragestellungen, die Formen der Erstarrung, der Kälte und des Überdrusses als Kehrseite unserer Wohlstands- und Konsumgesellschaft diagnostizieren. Schon in verschiedenen Zeichnungsfolgen und in begleitenden Tagsnotierungen taucht seit 1973/74 wiederholt der Begriff‚Langeweile’ auf. 1975 ergänzt Jürgen Klauke ein imaginiertes Porträtbild von Betty Smith aus Sekunden mit der Zeile: „Eine bestimmte Form von‚Langeweile’ birgt viel Stoff – Ich liebe Euch alle“. Und unter dem Gesichtspunkt Philosophie der Sinnlosigkeit wird 1974/76 ein Konvolut von Zeichnungen zusammengefaßt, die wie eine Präambel zum Thema Langeweile das entsprechende Begriffsrepertoire erforschen. Aus dem grafischen Linienfluß lösen, verdichten oder verkörpern sich Wörter zu diffusen wie auch kompakten Arabesken, Wörter/Begriffe wie Angst, Frage, sinnlos, alleine Langeweile, Wahnsinn werden Bildchiffren. Wörter gehen in Bilder über, Bilder in Strukturen, Strukturen wieder in Wörter. Die Transformationen figurieren ihren schwer festlegbaren linguistischen und existentiellen Hintergrund an einem Punkt ihrer absoluten Verfügbarkeit. Die Bedeutungsspielräume der Sprache in bezug auf ihren tatsächlichen Realitätsgehalt oder substituierten Realitätsanspruch werden hier grundsätzlich in Frage gestellt.

All diese nur beispielhaft genannten und in Werkkomplexen zeichnerisch entwickelten Überlegungen bereiten die große Arbeit Formalisierung der Langeweile (1979/82) vor mit der Jürgen Klauke zur gesellschaftlichen Realität von heute auf einer existenzphilosophischen Ebene Stellung nimmt. Formalisierung der Langeweile ist ein intermediäres Werk, das Zeichnungen, Fotoarbeiten und Sequenzen, Großfotos, eine Performance und einen film thematisch zu einem intermediären Werkkomplex zusammenschließt. Inhaltlich thematisiert die Arbeit den vom‚Überdruß’ sinnentleerten Lebenshorizont, das Vakuum zwischen dem realen und dem ersehnten Leben – ein Vakuum zwischen dem realen und dem ersehnten Leben – ein Vakuum, das wir als einschneidende Entfremdung von unserem Selbst empfinden, ein existentieller Zustand, bei dem das Selbst als verschüttete oder verloren gegangene Ich-Realität in die enthumanisierten, automatisierten Lebenszwänge des Alltags eingebunden ist. Die zehn Tableaus der vielteilig ausgearbeiteten Fotoarbeiten entwerfen ein Szenario der Leere, in dem die Figuren nach vorgegebenen Mustern fremd gesteuert handeln und in Ritualen erstarrt sind. Sie haben keine Individualität und damit keine Identität mehr, sondern sind in uniforme Systeme eingebunden. Dieses kodiert ihren Lebenstrieb, ihre Träume, ihre Aggressionen, ihre Verzweiflung, ihre Wunscherfüllung.
Die verschiedenen Fotoarbeiten sind durchgehend axial angelegt. Die Bilderfolgen veranschaulichen ebenso wie die Einzelfotos in ihrer zentrierten Anordnung Zustandsbeschreibungen von Posen, Gesten, Haltungen, deren inhaltlicher Zusammenhalt sich nur aus der Zuordnung der Einzelfotos ablesen läßt.
Die Vereinzelung der Darstellungsglieder gibt der Arbeit den eindringlichen Charakter des Statischen. Ruhe, Anonymität und Kälte schlagen in Distanz um. Die dialektische Struktur des fotografischen Bildes offenbart inhaltlich im Einzelfoto den Ausdruck der Isolation als Entfremdung. Im Ganzen der Sequenz gesehen, wird als gesellschaftliche Realität der Verlust, als Ritual die Selbstaufgabe diagnostiziert. Formal gewinnt die Arbeit eine ästhetische Dimension, deren Qualität die Ästhetik der Distanz dialektisch als eine Chiffre der täglichen Lebensrealität für den Verlust an Identität in der Nähe zum tödlichen, Leblosen offenbart. Hiermit steigert der Künstler den instrumental-methodischen Umgang mit dem Medium Fotografie in einer Zusammenfassung seiner bisherigen Arbeit zu einer zwingenden Metaphorik der Bildsprache, deren Syntax formal auf das Äußerste reduziert wird und die sich inhaltlich ausschließlich auf das Wesentliche einer zentralen Aussage konzentriert.
Damit befindet sich Jürgen Klauke scheinbar im größten Gegensatz zur sonstigen Kunstentwicklung, da die meisten Künstler seit Ende der siebziger Jahre wieder auf expressive malerische Ausdrucksmöglichkeiten zurückgegriffen haben. Doch der Schein trügt. Das instrumentale und dialektische Verständnis der malerischen Mittel, wie sie besonders von jenen Künstlern herangezogen werden, die sich 1979 in Köln vorübergehend zur Gruppe der‚Mülheimer Freiheit’ zusammenfanden, läßt dennoch Jürgen Klaukes prägenden Einfluß in Gestalt der dialektischen Bildsprache und in der Anwendung seines intermediären Kunstbegriffs vermuten, eine Konzeption, die er in Zeichnung und Fotografie und nicht zuletzt auch in seien Performances seit Jahren konsequent entwickelt hat. Ohne Zweifel hat darüber hinaus sein Umgang mit dem fotografischen Medium bei jüngeren Künstlern, etwa bei Astrid Klein oder Harald Falkenhagen, einen spürbaren Niederschlag gefunden.
Mit der Formalisierung der Langeweile hat der Künstler im Bereich des Mediums Fotografie zweifellos eine Grenze des bildbezogenen analytischen Diskurses und der Interpretation erreicht. Auf die Methode der Entgrenzung mit den Mitteln statisch strukturierter Fotosequenzen antwortet er daher in der folgenden mehrteiligen Fotoarbeit Auf leisen Sohlen (1982) mit einem lebensnahen Erzählstil.
Statt der Schwarzweißfotografie, die den Realitätsgehalt der abgebildeten Personen und Requisiten ohne greifbare Handlungsebene neutralisiert, um dadurch den Sachgehalt dialektisch zu abstrahieren, sind die Räume der Handlung hier eindeutig begrenzt, lichtdurchflutet und in ihrer natürlichen Erscheinung wiedergegeben. Formal werden die Darstellungen in einen Rahmen eingebettet, der in der Mehrzahl der Arbeiten die Mittelachse des Bildausschnittes betont. Dadurch ist es möglich, die Personen und Requisiten in dialogischen Handlungsmomenten auf die Mitte zu konzentrieren und vom Betrachter zu distanzieren. Gerade diese gestalterischen Momente geben der inhaltlichen Aussage im Anschluß an den Ausspruch des Künstlers, „den Tod bewegen und das Leben gefrieren“, durch die Dynamik des Handlungsablaufes und ihre wirklichkeitsnahe Veranschaulichung eine eindringliche Intensität im Hinblick auf Gedanken und Assoziationen, die uns scheinbar vertraut sind.
Mit anderen Worten: Jürgen Klauke stellt die Arbeiten Auf leisen Sohlen gegenüber den vorangegangenen Fotosequenzen auf eine andere, der Lebensrealität nahestehende Ebene, ohne allerdings die Methodik seiner bildnerischen Sprache grundsätzlich zu ändern. Hierbei zieht er eine Konsequenz, die sich folgerichtig aus seinem intermediären, dialektisch definierten Kunstbegriff ergibt. Während in den vorangegangenen Fotoarbeiten Erfahrungstatsachen, Einsichten, Erkenntnisse über seine Person vermittelt wurden, wobei sie zugleich objektiviert und in ihrer inhaltlichen Aussage auf eine abstrakte Ebene gehoben wurden, thematisiert der Künstler nun eine autonome Bedingung des Lebens selbst – die Endlichkeit, die er durch reale Mittel veranschaulicht.
Auf leisen Sohlen setzt sich mit jenem Phänomen auseinander, das als scheinbare Negation von leben am heftigsten verdrängt wird, uns aber in allen Bereichen des technokratisch verplanten Alltags näher steht als je zuvor – mit dem Tod. Schon der Titel läßt den Anspruch und die Perspektive der Thematik anklingen: Die Fragestellung nach dem Tod spitzt sich zu auf die Dialektik des Wirklichen selbst. Es ist eine Herausforderung, der Jürgen Klauke in eindringlichen, realistisch dargestellten und in ihrem Gehalt von Foto zu Foto genau verwirklichten Bildkonstellationen – Zustandsbeschreibungen individueller und psychischer Syndrome der Angst, der Flucht, der Verdrängung in das Unbewußte – einen präzisen Ausdruck verleiht. Er nennt die Krankheitsbilder des Menschen beim Namen und enthüllt zugleich die mythisch-rituellen Bezüge als Chiffren für die Abhängigkeit des Lebens von der Zeit – für die Endlichkeit des Seins.


VI. Chiffrierung des Sinnlosen

Im Blick auf die gesamte Werkentwicklung stellt Auf leisen Sohlen einen Wendepunkt dar. Das kommt nicht nur in den Fotoarbeiten, sondern vor allem auch in den Zeichnungen zum Ausdruck, die gleichzeitig entstehen. Denn der Künstler wechselt hier von der linearen Tuschfederzeichnung zu einer farbigen Laviertechnik über, bei der aus der Farbe selbst die Großformat Zeichnung konzipiert wird. Es sind keine Farbzeichnungen im konventionellen Sinn, wie der Begriff vermuten lassen könnte. Vielmehr geht Jürgen Klauke mit der Farbe ebenso instrumental um wie mit der Linie. Doch die Farbe gewinnt erst in der Fläche ihre Dimension und in Farbräumen die kraft ihrer Aussage. In einer großangelegten Folge von Arbeiten, die seit 1983 unter dem Gesamttitel Griffe ins Leere entstehen, wird eine subtile Technik im Umgang mit der Farbe ausgebildet, bei der besonders die Kongruenz von Form und Inhalt ins Auge fällt. Kongruenz heißt, daß Farbformen, Formgebilde, die bestimmte inhaltliche Assoziationen schon durch ihre Farbgebung präfigurieren, mit den Bedeutungsaspekten, die aus der Farbintensität und den Farbzuordnungen hervorgehen, ineinandergreifen. Aus dieser Dialektik von Formen und Farben entschlüsselt sich die eigentliche Ausdrucksintention der Zeichnungen. Griffe ins Leere sind Einzelarbeiten, die von Zeichnung zu Zeichnung eine jeweils andere Fragestellung zur Anschauung bringen. Im Mittelpunkt steht inhaltlich die Polarität zwischen Mann und Frau jenseits von subjektiven Obsessionen, die die Ich-Identität belasten. Ein Figurenmotiv bildet mit einer Gebärdensprache den Ausgangspunkt der Bildstruktur und der inhaltlichen Aussage, die mit äußerster Genauigkeit in der Fläche angelegt wird. Seine Bedeutung gewinnt es erst aus der Farbe. Es hat eine Binnen- und eine Rand- oder Außenzone, die sich wie Innen- und Außenwelt, Identität des Selbst und Ausstrahlung des Ichs nach außen verhalten. Diese Duplizität ruft im Vexierspiel positiver und negativer Formteile sowie in deren ornamentalen Strukturen häufig erotische Assoziationen hervor. Jürgen Klauke läßt die Farbe meist über die ganze Bildfläche strömen, in Partien abtrocknen oder baut sie immer wieder überraschend aus vielen Einzeltönen zu Qualitäten imaginärer Strahlkraft auf. Der Kontrast der sparsam aufgelegten, gehöhten Linien zu den kräftig durchtränkten Farbräumen gibt den Zeichnungen ihre immanente Spannung, ja expressive Aggressivität. Ob körperhaft gebunden oder als weitläufiger Farbrau, die Farbe bleibt, wie schon zuvor die Linie, auch hier immer autonom. diese autonome Realität der Farbe und die gleichwohl autonome Realität der Form schaffen Distanz zueinander, aber auch zum Betrachter. Sie definieren die Darstellungen und vielschichtigen Veranschaulichungsformen obsessiver Gedanken als Chiffren für jene Griffe ins Leere, die Jürgen Klauke als existentielle künstlerische Selbstaussage in einer Zeit der dramatischen Verausgabung und des Verlustes formuliert.
Das zeichnerisch malerische Werk seit 1983 findet eine intermediäre Antwort in Fotoarbeiten, die seit 1984 unter dem Gesamttitel Very de Nada entstehen. Diese Fotosequenzen sind wieder ganz auf das Schwarzweiß beschränkt. Ihre Darstellungen konzentrieren sich auf Handlungsmomente, in denen Begriffe, Vorstellungen und Konsequenzen einer autonomen Realität auf jenen inhaltlichen Ebenen diskutiert werden, wo sie sich heute am meisten in Frage gestellt sehen: im fotografischen Medium selbst, d.h. im Verhältnis zwischen der Darstellung im Bild, dem Bild als solchem und dem Betrachter als demjenigen, der das Bild auf seine Glaubwürdigkeit hin befragt. Andererseits beziehen sie sich auf die immer durchlässiger werdenden Vereinbarungsbegriffe, wie sie vor de Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem Mikro- und Makrokosmos oder aus der Gentechnologie als kodierte Sprach- und Denksysteme gewonnen werden.
Neben den Personen und einigen Requisiten wird das Licht in Form von starken Helldunkel-Kontrasten als Chiffre für Energie, die als fossile Substanz oder als Kernenergie unser Leben beherrscht, nun eigentlicher Träger der Handlung und Transportmittel der Aussage. Ohne jeden Bezug zu einem wirklichkeitsnahen Raum gewinnt das Licht, die Endenergie, jene dialektische Funktion konkret-abstrakter Bedeutungsebenen, aus denen sich Zustandsbeschreibungen und höchst skeptisch geprägte Erkenntnisperspektiven im Hinblick auf das Wesen des Wirklichen ableiten.
Jenseits der Entwicklungen der Fotografie als einem erst im letzten Jahrzehnt gefeierten Medium, mit dessen Hilfe eine künstlerisch geistige Durchdringung und bildnerische Interpretation dessen geschieht, was sich im medialen Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Fiktion abspielt, entwickelt Jürgen Klauke konsequent neue Strategien und bildnerische Sprachmittel. Ihm geht es darum, nicht nur auf Phänomene der Lebensrealität zu reagieren, sondern seine Haltung, Gedanken, Antworten sowie neue Deutungen und existentielle Perspektiven bildnerisch zu diskutieren und künstlerisch zu formulieren. Darin eröffnet er auf der Grundlage seines intermediären, dialektisch fundierten Kunstbegriffs mit Zeichnung, Fotografie und Performance hermetisch geprägte Ausdrucksmöglichkeiten, die seinen Arbeiten im Widerstreit mit aktuellen Strömungen in der zeitgenössischen Kunst ihre Kraft, ihre Originalität und zukunftsweisende Bedeutung sichern.