Elisabeth Bronfen

Das schöne Scheitern der Sterblichkeit

Zur hysterischen Bildsprache Jürgen Klaukes



Jürgen Klauke - Absolute Windstille
Kunst- und Austellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001



Der andere Zeitraum der Langeweile

In seiner fiktionalen Autobiographie, der Roland Barthes als Motto die Leseanweisung vorausschickt, die darin enthaltenen Aussagen sollten behandelt werden, als wären sie von einer Figur in einem Roman gesprochen, findet sich auch eine knappe Passage über die Langeweile. Barthes gesteht, er hätte sich als Kind schon sehr früh sowohl oft als auch ausgiebig gelangweilt. Dieses plötzliches Gefühl des Unwohlseins hätte ihn dann sein ganzes Leben lang in Schüben verfolgt, obgleich – dank seiner Freunde und seiner Arbeit – mit zunehmendem Alter immer weniger. Eine panische Langeweile, die ihn an den Punkt der Verzweiflung treiben konnte, erlebte er jedoch vornehmlich bei öffentlichen Anlässen (bei Podiumsdiskussionen, auf Partys, bei Gruppenveranstaltungen), und zwar immer dann, wenn sie auch von anderen beobachtet werden konnte. Die Erkenntnis, daß es sich bei seiner Langeweile um eine am eigenen Körper in der Öffentlichkeit empfundene Heimsuchung von Unbehagen handelt, führte Barthes schließlich zu der Spekulation: »Könnte die Langeweile meine Form der Hysterie sein?«(1) Dieser von Barthes nur angedeuteten Spur soll bei meinen Ausführungen zu Jürgen Klaukes Fotosequenzen 1972 bis 1980 sowie seiner Formalisierung der Langeweile nachgegangen werden, setzt doch auch er den Körper als Arbeitsmaterial ein, um Szenen des psychischen und physischen Unbehagens einem öffentlichen Blick darzubieten. Doch bevor die in diesen Foto-Performances durchgeführte Verschränkung einer gestalterisch produktiven Bildsprache der Hysterie und der Qualen der Langeweile genauer reflektiert werden kann, ist es notwendig bei der Frage zu verweilen, was man unter diesem Zustand eigentlich versteht.
Bereits ein Blick auf die landläufige Definition der Langeweile – ein zu langes Verharren in einem nicht gefüllten Zeitraum – zeigt einem sofort deren Nähe zum hysterischen Selbstausdruck, d.h. jener wandelbaren und nie wirklich greifbaren psychosomatischen Darbietung eines Wissens um eine grundsätzliche Leere, die dem menschlichen Dasein eingeschrieben ist. Aufgrund der grotesken Übertreibung, mit der das Gefühl eines unbestimmten Unbehagens sich auszudrücken sucht, während sich keine klar bestimmbaren organischen Störungen auffinden lassen, wird die Hysterie nämlich seit Jean-Martin Charcot gerne als »viel Lärm um nichts« bezeichnet. Wird nun die Weile, solange sie von einer bestimmten Dauer ist, als Ruhe und Rast empfunden, so kippt sie in dem Augenblick, in dem die Zeit des Stillstandes zu lange anhält, und es sich demzufolge um zu viel unbegrenzte, aus dem nützlichen Alltag herausgerissene Zeit handelt, in ihr Gegenteil. Eine zu lang anhaltende Weile, man könnte auch sagen eine übertriebene Weile, wird – durchaus der Sprache der Hysterie entsprechend – laut Duden verstanden als ein unangenehmes, lästiges Gefühl des Nichtausgefülltseins, aber auch als ein zur Ermüdung führendes Gefühl des Überdrusses, das daraus entsteht, daß man nicht weiß, womit man seine Zeit verbringen soll. Die Langeweile markiert somit einen Zustand, in dem ein Wissen um die Unzulänglichkeit des Daseins entsteht als Verweis darauf, daß etwas fehlt (»Ich habe nichts zu tun.«) und als Verweis darauf, daß etwas im Überschuß vorhanden ist (»Ich habe mehr psychische und physische Kraft, als ich einsetzen kann.«): Eine Situation also, in der unmißverständlich dem Subjekt von seinem Unbewußten die Botschaft vermittelt wird, es unterhalte sowohl zu wenige als auch zu viele Bezüge zur Welt. Umgangssprachlich setzt man die Langeweile einem ermüdenden Empfinden von Eintönigkeit und Ödheit gleich, das aus dem Mangel an Abwechselung, Anregung oder interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht. Doch das bedeutet auch, die Langeweile tritt genau dann ein, wenn die imaginären und symbolischen Prothesen der Ablenkung – ob Arbeit, Liebe oder Unterhaltung – versagen, die uns erlauben, ein Wissen um die Leere, die dem Leben eigen ist, schützend abzudichten. Die Langeweile läßt somit jenen traumatischen Kern der menschlichen Existenz sichtbar werden, den wir verdrängen müssen, um im Alltag funktionieren zu können. Weil die Langeweile einem auf die Nerven geht, einen quält und als unerträglich, trostlos und zugleich lähmend wahrgenommen wird, spricht man davon, daß man sie vertreiben muß. Man ist bereit, selbst unsinnige Handlungen zu unternehmen oder belanglose Beziehungen einzugehen, »aus reiner, purer Langeweile«. Nimmt man zudem Redewendungen beim Wort, die davon sprechen, daß man vor lauter Langeweile ›fast‹ einschläft oder sogar ›fast‹ stirbt, läßt sich auch
folgern: Ein zu langes Weilen bedeutet eine Situation, in der man sich zu ausgiebig irgendwo aufhält, zu sehr im zeitlichen wie räumlichen Sinne irgendwo anwesend ist, und dadurch in eine Grenzsituation todähnlicher Lähmung oder Erschlaffung gerät.
Der Vorschlag, Jürgen Klaukes Intim-Performances in die Nähe einer Körpersprache der Hysterie zu rücken, geht auf mein eigenes Anliegen zurück, im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse diesen psychosomatischen Ausdruck nicht so sehr als eine pathologische, von sexueller Unzufriedenheit geprägte, simulierte Körperstörung zu begreifen. Statt dessen schlage ich vor, diese am Körper verhandelte Bildsprache als Ausdruck einer allgemeineren Unzufriedenheit zu deuten, die in ihrer proteischen Kraft auf der Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz in all ihren Identitätskonzepten besteht. Der hysterische Körper – so meine Spekulation – erzählt weder ausschließlich noch bevorzugt über ein Abweichen von der sogenannten normalen Sexualität. Was er verkündet, ist vorrangig eine Botschaft über Versehrtheit: die Versehrtheit des Symbolischen (die Brüchigkeit der uns kulturell zugewiesenen, geschlechtsspezifischen Identitäten), des Imaginären (die unlösbaren Widersprüche, die wir mit unserer Phantasiearbeit ganz im Sinne von Schutzdichtungen zu überblenden und abzudichten suchen) und schließlich die Verletzbarkeit des wandelbaren, sterblichen Körpers. Ist man bereit, dieser Umschrift zu folgen, läßt sich die Langeweile durchaus als eines der prägnanten hysterischen Symptome lesen.(2) Denn auch die Langeweile überbringt eine Botschaft, die zwar qualvoll zu ertragen, dennoch einer direkten Konfrontation mit dem von ihr abgedichteten traumatischen Wissen auch vorzuziehen ist. Spekulativ auf eine Formel gebracht wäre die Kernbotschaft der Langeweile: Etwas stimmt nicht. Etwas in mir sowie in meinem Verhältnis zu meiner Welt ist nicht am Platz. Weil der zu lange währende Stillstand der Zeit mich die Brüchigkeit der symbolischen Gesetze und Konventionen erkennen läßt, die mich meine Identität wie auch meine Position in der Alltagswelt als konsistent erfahren lassen, fordert mich dieser Zustand regelrecht dazu auf, mich mit all den Fehlbarkeiten meiner Existenz auseinanderzusetzen. Zwar stellt dieses Aufflackern einer Vergeblichkeit der Existenz für mich eine Qual dar, doch die Langeweile kann auch als Chance begriffen werden. Wie andere hysterische Symptome kann der durch die Langeweile hervorgerufene Eintritt in den Bereich des Phantasmatischen nämlich auch als ein produktives Kreisen um eine Leere begriffen werden. Betont Jürgen Klauke doch zu Recht: »Es kommt bei den Zeichen auf ihre Verwendung an, ob sie von Freiheit sprechen oder vom Zwang.«(3) Die Langeweile als symptomatische Botschaft ernst zu nehmen, bietet einem nämlich die Möglichkeit, für diesen Störfaktor, der uns nicht ankommen läßt, der uns unzufrieden macht, eine Bildsprache zu finden. Gerade das Gefühl eines unerträglich quälenden Unbehagens treibt einen zur Transformation und zur Formalisierung des im Zustand der Langeweile empfundenen Mangels im Sein.
Die im Schweizerdeutschen gängige Redewendung »Ich habe lange Zeit nach dir«, mit der das Gefühl der Sehnsucht zum Ausdruck gebracht wird, läßt zudem eine weitere Verbindung zur Sprache der Hysterie sichtbar werden.(4) Bemerkt doch George Sand in einem Brief an Gustave Flaubert über die Hysterie: »Handelt es sich um eine Krankheit, einen großen, durch das Begehren nach einem unmöglichen Etwas verursachten Scherz? In diesem Falle sind wir alle, die Einbildungskraft besitzen, von dieser merkwürdigen Krankheit infiziert.« Denn man könnte weiter spekulieren: Die Langeweile, die einen in einen psychosomatischen Zustand, der außerhalb des Zeitraumes des Alltags liegt, einführt, eröffnet eine Bühne, auf der sich eine unerträgliche Qual nicht nur als die Spiegelverkehrung des Begehrens entpuppt, sondern auf der sich auch Szenarien abspielen können, deren Ziel es ist, diesen leeren Zeitraum mit etwas anzufüllen. Ganz in diesem Sinne hat Sigmund Freud in seinen Studien zur Hysterie wiederholt darauf hingewiesen, daß die von ihm als ›taedeum vitae‹ bezeichnete Langeweile sich immer wieder als Auslöser für die Tagträume seiner hochgradig begabten Hysterikerinnen entpuppte.
Die Tatsache, daß Jürgen Klauke in seinen Foto-Performances sich selbst wie auf einer Bühne präsentiert, rückt die von ihm verkörperten Szenen in die Nähe jener Orte, für die Michel Foucault den Begriff der Heterotopie geprägt hat: faktisch existierende Räume, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Normalität befinden, auch wenn sie eindeutig zu lokalisieren sind und somit zu den Schauplätzen des Alltags ein ›Widerlager‹ oder eine ›Gegenplazierung‹ bilden. Obwohl sie sich deutlich von den Schauplätzen des Alltagslebens unterscheiden, spiegeln sie diese auch wider und sagen somit auch etwas über sie aus. Heterotopien verknüpfen tatsächlich existerende Orte mit unmöglichen, phantastischen Positionen, denn während sie einerseits für das Subjekt des Künstlers so lange real sind, wie der Betreffende an diesem Ort verweilt, sind sie andererseits völlig virtuell, weil sich ihre
Existenz nur als Bildwelt entfaltet, die zwischen den intimen Phantasien des Künstlers und dessen Rezeption durch ein Publikum eine Brücke schlägt. Dabei dienen sie laut Foucault einer Demontage des Alltagsraumes, und zwar indem sie zum einen die Einschränkungen, die dieser den Menschen auferlegt, sichtbar machen, gleichzeitig aber auch aufzeigen, daß es mehr das menschliche Subjekt prägende Sinnräume gibt als den des normalen Alltagsbewußtseins.(5) Wie Jürgen Klauke von seinen Intim-Performances behauptet, handelt es sich hier nicht um einen realen Raum oder Ort, sondern eher um »etwas Undefinierbares, Ortloses«. Dem fügt er hinzu: »In diesem Revier treibe ich mich herum und suche nach Formeln oder Gebilden, die eine Ahnung davon abwerfen, die im besten Fall Zonen des Unaussprechlichen, Unfaßlichen anklingen lassen und am Brachland des Unterbewußtseins andocken.«(6) Mit anderen Worten, in diesen aus einem Verweilen im Raum entstehenden Fotosequenzen – die auch als Heterochronie begriffen werden müssen, da sie zudem eine jenseits der Alltagsempfindung liegende Zeit mit ins Spiel bringen – kann jener von Freud als »anderer Schauplatz« bezeichnete verborgene Ort des psychischen Apparats ausgelotet und durch die Übersetzung in die Bildsprache einer anderen Heterotopie angeglichen werden: dem Kinosaal. Denn Jürgen Klauke versteht diese Fotosequenzen auch als Serien von ›stills‹, als im Augenblick fixierte Bilder auf der Leinwand des Bewußtseins.
Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß in den Arbeiten Jürgen Klaukes die Heterotopie einer leeren, angehaltenen Zeit, in der die von ihm inszenierten Körper zu lange in diesem ›anderen‹ Zeitraum verweilen, einer doppelten Visualisierung dient. In den von ihm als Intim-Performances bezeichneten Fotosequenzen wird die quälend empfundene Vergeblichkeit der Existenz durch ein Surrogat verdeckt, das sich der doppelten Rhetorik des Fetisch bedient. Der inszenierte Körper tritt an die Stelle der Leere, wird sozusagen zu dessen Ersatz ernannt und zieht nun die Aufmerksamkeit auf sich, die vorher der Langeweile zugewandt wurde. Gleichzeitig aber erfährt die Aufmerksamkeit eine Steigerung, weil mit dieser Figurierung genau der lähmenden Qual auch ein Denkmal gesetzt wird.(7) In der mehrteiligen Fotoarbeit Alleinsein ist eine Erfahrung von immer weniger (1975) sehen wir zuerst einen leeren Tisch, auf dem ein Telefon steht. Über den Lehnen der neun Stühle, die um diesen Tisch herum gruppiert sind, hängen Hemden oder Jacken: jeweils Zeichen der möglichen Identitätsbekleidungen, die man anlegen kann, um eine bestimmte Stelle in bezug zu dem Telefon, auf das alle Positionen am Tisch weisen, einzunehmen. Im nächsten Bild sitzt die Persona Jürgen Klauke in ihrer Lederjacke am äußersten Rand rechts neben dem Telefon. Er füllt somit eine der leeren Stellen am Tisch aus, jedoch in der Haltung dessen, der auf eine Bestätigung der von ihm eingenommen Position wartet, die dann glücklich gelungen wäre, wenn er, an diesem Platz sitzend, tatsächlich angerufen würde. Doch gerade diese symbolische Ratifizierung bleibt aus. Jürgen Klauke bewegt sich zwar – ganz dem Denkbild des wandernden, nach Befriedung suchenden Uterus der Hysterikerin entsprechend – um den Tisch herum, legt sich jeweils eine neue Oberbekleidung an. Doch der erwartete Anruf, der diesem Kreislauf diverser Identitäten zum Abbruch verhelfen würde, bleibt aus, zumindest so lange die Figur im Bild verweilt. Von der langen Dauer des Spiels der Identitäten sichtlich ermattet, sitzt Jürgen Klauke schließlich am äußersten linken Rand des Tisches dem Telefon gegenüber, seinen Kopf auf dem Tisch abgestützt. Dann ist er aus dem Bild verschwunden, die Stühle umgekippt, der Telefonhörer abgenommen. Das Ankommen in einer Identitätsposition hat keinen Ort im Bild, bedeutet aber scheinbar auch die Aufgabe aller anderen Möglichkeiten. Es bleibt nur die Leere dieser Verwerfung sichtbar.
Jürgen Klauke betont die Doppelkodierung der Rhetorik des Surrogats jedoch nicht nur dadurch, daß er in seinen Arbeiten zur geschlechtlichen Transformation die klassische Bildsprache des sexuellen Fetischismus anspricht, in seinen Arbeiten zur Formalisierung der Langeweile hingegen die fließende Grenze zwischen dem menschlichen Körper und seinen Alltagsgegenständen thematisiert. Er lokalisiert diese doppeldeutige Geste auch als Kern seines gestalterischen Verfahrens: »Ich bin Bildgegenstand oder Material, ich verschwinde als Person, aber nur fast. Bilder sind mentale Bilder, eine sinnliche Umsetzung und Fixierung von Gedankenbildern. Eine geistige Verdichtung.«(8) Dabei wird einerseits eine Intimität veräußerlicht, Vorstellungsbilder seiner psychischen Realität als öffentliche Vorstellung zur Schau gestellt, um die in der Langeweile symptomatisch empfundene Unzulänglichkeit des Daseins durch Phantasieszenarien zu ersetzen und somit zu bändigen. Doch gerade dadurch, daß Jürgen Klauke diese apotropäische Geste mit einem Verschwinden seiner Person gleichsetzt, kommt genau jene Leere ins Spiel, die es abzudichten gilt: doch nur ›fast‹, wie man an Langeweile auch nur ›fast‹ einschläft oder ›fast‹ stirbt. Wie im folgenden noch genauer ausgeführt werden soll, behandelt Jürgen Klauke die für eine Sprache der Hysterie zentrale Frage: »Gestaltet sich meine Identität als Bildsubstitut oder als materielle Substanz?«, und zwar indem er wiederholt die Grenze zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, wie die zwischen dem menschlichen Geschlecht und den unbelebten Gegenständen seiner Welt aufhebt. Der Rückgriff auf Ersatzteile zugunsten einer Bildmontage der Identität wird gleichzeitig aber auch als Demontage dieser schützenden Dichtung inszeniert. Denn indem Jürgen Klauke die eigene Intimität als anderes, als externen Bildkörper gestaltet, wirft er gleichzeitig die Frage auf, ob der Körper womöglich immer nur als bezifferter seine Intimität visuell umsetzen kann: als geschlechtlich markiertes Körperzeichen oder als Buchstabe in einer mit anderen Figuren durchgespielten Formel. Gleichzeitig aber verschwindet im Zuge der Intim-Performances die Person Jürgen Klaukes nur fast. Verkündet die Langeweile eine Botschaft von der Versehrtheit unserer Alltagskonventionen, so sind auch Jürgen Klaukes fotografische Intim-Performances von der Zeichnung der Fehlbarkeit geprägt. Bewußt inszeniert Jürgen Klauke nämlich auch den Umstand, daß sich etwas seinen visuell-sinnlichen Umsetzungen immer auch entzieht. Durchaus der proteischen Kraft der hysterischen Sprache entsprechend, die mit keinem Symptom je ganz zufrieden ist und deshalb stets neue reproduziert, meldet sich die »groteske Unzulänglichkeit des Daseins«,(9) die den Kreislauf der visuellen Umschriften überhaupt in Gang gesetzt hat, auch hartnäckig wieder. Womöglich scheitert sein Verschwinden im Bild gerade deshalb, weil Jürgen Klauke sich dieser an der Materialität des Körpers festgemachten Unzulänglichkeit nie gänzlich entziehen will, sie nie ganz zugunsten des Bildes aufgeben möchte. Somit erscheint die Langeweile in seinen Intim-Performances wie Platons Pharmakon. Abhängig von der Dosierung kann das zu lange Verweilen in einem Zeitraum außerhalb der Normalität heilend oder vergiftend sein. Erklärt Jürgen Klauke doch in einem Gespräch mit Peter Weibel: »Ich spreche den unauflöslichen Konflikt mit uns selbst an, das damit verbundene ›schöne Scheitern‹, das unsere Existenz, wenn man nicht verrückt wird, recht unterhaltsam macht.«(10) Nicht also die Ablenkungen von der Langeweile, sondern gerade die von ihr verkündete Botschaft unserer Versehrtheit erlaubt uns, eine gestalterisch produktive Beziehung zu diesem unausweichlichen ›schönen Scheitern‹ zu unterhalten.


Kartographien des sexuellen Geschlechtes

Im traditionellen Bildrepertoire der westlichen Kultur wurde das männliche Selbst gerne abgegrenzt von jeglicher Vorstellung von Mimikry, Täuschung oder Simulation. Die wahre Männlichkeit, so das Postulat, stellt eine ehrliche, mit sich identische Figurierung des Selbst dar. Diese gewinnt ihre Bedeutung jedoch vor allem daher, daß ihr die Weiblichkeit als Verstellung, als theatralischer Kunstgriff und Gaukelspiel entgegengesetzt wird. Wurde somit die Weiblichkeit seit Eva mit einer verführerischen Maskerade und einer bedrohlichen Verschleierung des wahren Selbst gleichgesetzt, erscheint die Vorstellung einer männlichen Maskerade als ein Oxymoron, sieht man einmal ab von den Libertins der höfischen Kultur oder den urbanen Dandies der Neuzeit.(11) Doch spätestens seitdem Arthur Rimbaud Ende des 19. Jahrhunderts verkündete: »Das Ich ist ein anderer.« (»Je est un autre.«), während seine hysterischen Geschwister ihren Mitmenschen und den von ihnen konsultierten Ärzten die proteische Wandelbarkeit von Identität vorführten und Sigmund Freud demzufolge die Spaltung im Selbst zur Grundsatzprämisse jeder Psychoanalyse deklarierte, ist die saubere Abgrenzung der Männlichkeit von Vorstellungen, die den Bereich der Maskierung, der Verschleierung und der Entstellung tangieren, ins Wanken geraten.
Diese Krise im herkömmlichen Sinn von Männlichkeit hat Jürgen Klauke in den 70er Jahren spielerisch aufgegriffen, um sowohl die eigene Andersartigkeit, die eine Vielzahl an Selbstinszenierungen erlaubt, zu erforschen, als auch, daran anknüpfend, die Festlegung auf ein Identitätsbild zu unterwandern. Die Programmatik von Fotosequenzen wie Transformer (1972/73), Verschleierungen (1973) oder Masculin/Feminin (1974) lautete: »Lustvolle Aneignung des Weiblichen oder des Anderen, damit Infragestellung des ›ewig Männlichen‹ genauso wie des ›ewig Weiblichen‹. Also Brechung der tradierten, beschränkten Vorstellungswelten, wie was zu sein hat.«(12) Doch bezeichnenderweise findet in diesen Fotosequenzen die Annäherung an das andere, die zugleich einer Verschiebung der eigenen sexuellen Identitätsgrenzen dienen soll, gerade durch ein übermäßiges Aneignen von jenen Versatzstücken statt, die für die männliche oder weibliche Sexualität einstehen, diese aber nur als Surrogate bezeichnen: Pelzstolas, enganliegende Negligés, Halsschmuck und Ringe, Gesichtsschminke und Nagellack, sowie Geschlechtsteile imitierende Stoffgebilde. Somit erscheint sowohl die männliche als auch die weibliche Sexualität wie ein Kostüm, das nicht nur angelegt, sondern auch in Einzelteile zerlegt und anagrammatisch neu zusammengesetzt werden kann.(13) Das Gewand des Transformers hat anstelle von Brustwarzen zwei nach oben geschwungene Stoffpenisse, anstelle des männlichen Glieds eine von einem doppelten Stoffhorn umkreiste Riesenscham.
Was Jürgen Klauke in dieser Materialisierung seines Verlangens aus sich herauszutreten und sich neu zusammenzusetzen entstehen läßt, ist demzufolge ein Kompositum sexueller Geschlechtlichkeit: Ein grotesker Körper, in dem die Angst um den die männliche Sexualität bedrohenden Mangel der Weiblichkeit durch ein zu viel an Sexualteilen abgedichtet und gleichzeitig ganz der Rhetorik des Fetischismus entsprechend durch diese Bannung auch explizit benannt wird. Gleichzeitig trägt Jürgen Klauke in diesen Selbsttransformationen gerne auch Augenmasken oder Schleier, um eine mehrfache Brechung mit ins Spiel zu bringen: Die Fragmente des anderen Geschlechtes, die er sich aneignet, werden bewußt als Masken behandelt, als Schminke, die er sich so auffällig und übermäßig aufträgt, daß er hinter der Maskerade nie verschwinden kann. Wie bei der klassischen Sprache der Hysterie verlieren wir nie aus den Augen, daß diese Umgestaltung des Selbst eine Inszenierung ist, eine bewußt angelegte Simulation, die eine Abgrenzung des angelegten Kostüms vom essentiellen Selbst strikt aufrechterhält. In der Sequenz Transformer setzt Jürgen Klauke beispielsweise eine Augenmaske auf, zieht sie dann wieder vom Gesicht und beendet die Sequenz mit nach oben gehaltenen Armen in der Pose des Fragenden, als werfe er auf uns die Frage zurück, was hinter einer Demaskierung zu erwarten wäre. In Physiognomien (1972/73) oder Verschleierungen (1973) greift er das kulturell tradierte Denkbild der Weiblichkeit als verschleiertes Rätsel auf, um es gleichzeitig auch zu dekonstruieren. Die von ihm verwandten Stoffe sind nicht nur so durchsichtig, daß sich hinter ihnen nichts verbirgt. Der Blick durch den Schleier trifft zudem unweigerlich auf eine weitere Verstellung – die übermäßige Schminke des Gesichts, das durchsichtige Negligé oder Trikot, aufgrund dessen der Transvestit wie eine Travestie des männlichen Körpers erscheint.(14) Wie Jürgen Klauke erklärt: »Ich schlüpfe nicht in irgendwelche Rollen, ich will keine Frau sein, auch kein
anderer, schon gar nicht strebe ich nach Einheit und nach göttlicher Vollkommenheit – wenn schon – ›strahlender Mischling‹.«(15)
Dabei hat er um knapp zwei Jahrzehnte die von Judith Butler mit ihren Ausführungen zur kulturellen Konstruktion jeglicher sexueller Geschlechtlichkeit hervorgehobene Unterscheidung von Sexualität und ›gender‹ vorweggenommen. Indem er seinen Körper wie den seiner Mitspieler in diesen Fotoszenarien als Material einsetzt, an dem sozial vorgeschriebene Geschlechtskonzeptionen aufgebrochen, parodistisch umkodiert und neu zusammengesetzt werden, inszeniert er jene Denkfigur, die auch für Judith Butlers Anliegen, akzeptierte Vorstellungen einer normierten Geschlechtsidentität in Frage zu stellen, ausschlaggebend ist: ›Gender‹ stellt eine Verkörperung dar. Zu einer geschlechtlich markierten Identität kommt man nur, indem man ein Idealbild zu verkörpern sucht, das eigentlich niemand bewohnt. Gleichzeitig gibt es aber auch keine Identität vor oder jenseits dieser kulturellen Prägung.(16) Ganz im Sinne der zeitgenössischen Debatte um ›gender trouble‹ geht es auch Jürgen Klauke in den Fotosequenzen der 70er Jahre darum, festgeschriebene geschlechtliche Identitäten aufzubrechen, um eine binäre Logik der Sexualität als unzulänglich zu entlarven und derart normative Idealbilder von Geschlechtlichkeit – ob in bezug auf Männlichkeit oder Weiblichkeit – durch eine Anagrammatik des Körpers zu verunsichern, gleichwohl aber nicht gänzlich zu tilgen. Denn bei den von ihm zur Schau gestellten Transformationen handelt es sich um Verwandlungen, die sich zwar einer Festlegung auf eine Identität entziehen, um eine Pluralität an Gestalten, durch die das männliche Selbst sich entdecken und zum Ausdruck bringen kann, entstehen zu lassen. Doch diese Transformationen operieren auch nach bestimmten kulturell vorgeschriebenen Regeln, und zwar nicht zuletzt, um sichtbar zu machen, daß jede öffentlich vorgetragene Identität sich aus angeeigneten Versatzstücken ergibt und nicht eine von den eingenommenen Rollen abzukoppelnde Essenz darstellt. Die Erforschung der Alterität des Selbst kann nur durch die Aneignung von bereits in Umlauf gesetzten kulturellen Bildern erfolgen, die jede Selbstdarstellung immer auch entstellen. Zwar nimmt Jürgen Klauke die Debatte der 90er Jahre um ›gender trouble‹ in dem Sinne in diesen Fotosequenzen vorweg, als auch er davon überzeugt ist, man könne geschlechtliche Identitäten in Form von spielerisch parodistischen Refigurierungen aushandeln, doch im Gegensatz zu den Vertretern einer ›performative gender theory‹, für die es hinter der Maske keine reale Gestalt gibt, kann Jürgen Klauke dem Konzept der Maskerade durchaus etwas abgewinnen. Auch er entlarvt in seinen um eine sexuelle Transformation kreisenden Arbeiten jegliche geschlechtliche Identität als einen Kunstgriff, der zwar am Körper Gestalt annimmt, dies aber nur in bezug auf ein bereits etabliertes Bildrepertoire vollzieht. Gleichzeitig schwingt bei ihm durchaus die an die Vorstellung von ›gender‹ als Maskerade geknüpfte Denkfigur mit, daß nämlich hinter den zwischen den Geschlechtern changierenden Inszenierungen des Selbst eine Person festzumachen ist. Sie mag zwar eine gespaltene, von Widersprüchen und Veränderungen durchsetzte sein, aber eine reale Handlungsfähigkeit muß ihr dennoch zugestanden werden. Jürgen Klauke verschwindet eben nur fast hinter seinen Verwandlungen. Der Künstler ist mehr als die Summe seiner Selbstgestaltungen.
Dennoch ist das Spiel mit konventionellen Geschlechterkodierungen mit dem Aufbrechen einer zweiten Demarkationslinie verknüpft, der nämlich zwischen dem belebtem und dem unbelebtem bzw. dem anwesenden und dem abwesenden Körper. In einigen Fotosequenzen der 70er Jahre stellt sich Jürgen Klauke nämlich explizit in einer Reihung leidenschaftlicher Gebärden vor, in denen der ›strahlende Mischling‹ in die Nähe der ›schönen Leiche‹ gerät. In Die Lust zu leben (1976) werden beispielsweise verschiedene Tötungsarten ironisch durchgespielt, und diesen Leichenbildern wird jeweils ein verwackeltes Selbstportrait gegenübergestellt, in dem seine Person zwischen Präsenz und Absenz visuell oszilliert. Die Selbsttötung erscheint hier wie eine andere Art der Selbsttransformation: der den Tod simulierende Körper mit dem die Sexualität des anderen erprobenden vergleichbar. In Arbeiten wie Begegnung (1975) oder Einzelgänger (1975) wird wiederum der agonistische Kern einer Spaltung des Ichs in verschiedenen
Figuren durchgespielt. Das Selbst, das anfänglich seinen Doppelgänger liebt, weil es sich in dieser Widerspiegelung in seiner Einheitlichkeit gänzlich bestätigt fühlt, wird von seinem Doppelgänger erlegt. Oder der im Zustand der Langeweile aufgerufene
Doppelgänger neckt den Tagträumer so lange, bis dieser ihm zu Füßen liegt. Dann sitzt der Doppelgänger seinerseits auf dem Stuhl, wie der von ihm Überwundene in der Pose des sich langweilenden Tagträumers. Nebeneinander aufrecht erscheinen sie im Bild nur im letzten Foto als verwaschene Phantomgestalten, ist doch im Aberglauben der Doppelgänger zweifach kodiert: Versicherung des Fortlebens, weil sich in ihm das Selbst reproduziert hat, und Vorbote des Todes, weil es durch diese Selbstverdoppelung auch ersetzt werden kann.(17)
In Self Performance (1972/1973) wird zudem das Überkreuzen stereotyper Ziffern der Männlichkeit (Lederkostüm, um die Brust geschnürte Stoffglieder) mit denen der Weiblichkeit (ein mit vielen behaarten Schamlippen versehenes helles Kleid, eine um den Unterleib geschnürte Stoffscham) durch Requisiten ergänzt, die ebenfalls ein Verschwinden der sich in der Selbstinszenierung aufspaltenden Figur andeuten. Die weißen Lilien, die Klauke in mehreren Bildern in seinen Armen wie eine Umrandung seines Gesichtes hält, verweisen ikonographisch auf die Reinheit der Mutter Maria und die jungfräulichen Heiligen, aber auch auf
Christus, der in Darstellungen des Jüngsten Gerichts oft mit je einer Lilie und einem Schwert dargestellt wird. Die Transformation des Geschlechtes wird somit als Transformation in eine christlich inspirierte Ikone behandelt, deren Wirkung gerade von der Nähe zum Tod hergeleitet wird. Tatsächlich erscheint Jürgen Klauke auf einer dieser Fotografien, auf der er sich einen transparenten Schal über den Kopf gestülpt hat, nicht nur wie ein ›bräutlicher Jüngling‹, sondern zudem wie eine im Leben erstarrte Reliquie. Der Versuch, das eigene Verschwinden im Bild durchzuspielen, wird in einem anderen Foto durch Widerspiegelung als eine unheimliche Doppelung des Selbst dargestellt. Mit einem Strauß Lilien in der Hand blickt Klauke über seine rechte Schulter in einen Spiegel, so daß wir ihn doppelt sehen. Dies kann durchaus als selbstreflexive Geste verstanden werden, da die Widerspiegelung seines lilienumrahmten Gesichts eine ›mise-en-abîme‹ des ganzen Fotos darstellt. Gleichzeitig aber wird auch eine Denkfigur des Aberglaubens aufgerufen, daß nämlich das Spiegelbild seit dem barocken Vanitas-Gedanken ein Doppelgänger der menschlichen Seele ist und dem sich dort betrachtenden Selbst nicht nur den ›schönen Schein‹ eines einheitlichen Selbstbildes bietet, sondern auch das Absterben dessen leiblicher Hülle voraussagt.
Um die Analogie zwischen dem Verschwinden der Person in der bildlichen Wiedergabe mit dem Aufgehen im Kostüm des Geschlechtes visuell hervorzuheben, beendet Klauke diese Sequenz mit einer Fotografie, in der sein Körper tatsächlich abwesend ist. Statt seines verkleideten Körpers sehen wir das hybride Kleid der Weiblichkeit, das er sich in den vorhergehenden Bildern angelegt hatte. Es steht allein, ein nicht ausgefüllter Körper im Raum, zu dessen Füßen die weißen Lilien: Noch einmal ein Verweis auf die doppeldeutige Rhetorik der Reliquie, da diese sowohl das Überleben des menschlichen Verschwindens garantiert und gleichzeitig dem verschwunden Körper qua Absenz ein Denkmal setzt; man könnte auch sagen, den Abwesenden weiterhin im Raum verweilen läßt. Dabei nutzt Jürgen Klauke die Umwandlungen des Selbst nicht nur, um den eigenen Tod zu antizipieren, sondern eröffnet auch Fragen darüber, was es bedeutet, wenn das Selbst erst in der Inszenierung im Bild entsteht. Slavoj Zizek führt nämlich die logische Konsequenz des Umstandes, daß wir aufgrund der Aneignung eines geschlechtlichen Kostüms zu der Maske werden, die wir zu sein vortäuschen, dazu, in der Verkörperung dieser Rolle die einzige dem Subjekt mögliche Authentizität festzumachen: in dem Akt nämlich, der uns diese Rolle ernst nehmen läßt.(18) Die Intim-Performances bleiben somit von einer gegenläufigen Rhetorik gekennzeichnet. Das Durchspielen möglicher Identitäten erlaubt dem Selbst, sich gegen die Vergeblichkeit der Existenz schützend abzusichern, indem es visuell Sätze seines Daseins bildet: »Ich bin jemand, weil ich die Maske, die ich mir aneigne, als meine Identität deklariere.« Gleichzeitig bringt es die abzudichtende Leere mit ins Spiel: »Ich bin nur ein Buchstabe in einem von mir geschriebenen Satz, nur eine von mir durchgeführte Performance.«
In Jürgen Klaukes Fotosequenzen entpuppt sich die Heterotopie einer angehaltenen Zeit demzufolge wiederholt als Szene eines Balancierens von Gegensätzen. Das Durchlaufen diverser Selbstgestaltungen als Zeichen einer Authentifizierung des Selbst in der Maskerade folgt zwar dem Gestus eines Kartographierens, jedoch nur, um das Verlangen nach stabilen Typologien auch wieder zu demontieren. Daß die proteische Kraft eines unermüdlichen Selbstverwandlungstriebes ein Verlangen nach Klassifikationen hervorruft, weil sie eine Herausforderung an klare, normative Identitätsvorstellungen darstellt, ist natürlich nichts Neues. Man denke nur an die Art, wie die Hysterikerinnen Jean-Martin Charcots den bildbesessenen Psychiater zu einer rigiden Nosologie ihrer
›attitudes passionelle‹ verleiteten, und in diesen Posen, um ihm zu gefallen, oft minutenlang erstarrten, damit er sie in dem Fotoatelier seiner Klinik ablichten konnte. Charcot konnte somit zwar lückenlos die fünf Phasen des hysterischen Anfalls, die er sich ausgedacht hatte, visuell kartographieren. Eine Erklärung für diese psychosomatische Störung, geschweige denn eine Lösung blieb dennoch aus.(19) Im Verlauf seiner spielerischen Verwandlungen des Selbst zeigt Jürgen Klauke durchaus im Sinne des hysterischen Widerstandes gegen ein Festschreiben genau jene Maskeraden, deren Ernst auch den authentischen Akt des Subjekts ausmacht. Obgleich das Selbst nur im Bild und durch das Bild seine Intimität veräußern kann, so kann dennoch kein Raster diesen Ausdruck einfangen. Das Kartographieren ist ebenso von einem ›schönen Scheitern‹ geprägt, wie die psychische Realität und das Begehren, die es zu beschreiben sucht. Wie Jürgen Klauke in seinem Gespräch mit Peter Weibel erklärt: »Mit sparsamer Mimikry denunziere oder dekonstruiere ich die eingefahrene Typologie, den Glauben an sie und gehe einen fröhlichen Pakt ein mit den ewig Denunzierten. Ich schauspielere keine Typen – im Bild existieren sie nur als Wort. Eine Wort-Bild-Kombination, die durch Irritation den Blick schärft.«(20)
In der Arbeit Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/77) sehen wir zwölf mal das Gesicht und die Schultern der Persona Jürgen Klauke, frontal aufgenommen wie für ein Paßfoto. Nur zwei Dinge unterscheiden die Fotos voneinander: Mal zeigt das Gesicht ein breites Lächeln, mal blickt es finster in die Kamera. Zudem trägt jedes Bild eine Überschrift, die dem Gesicht eine ganz eindeutige Stellung gegenüber dem Gesetz zuschreibt: die lächelnden Physiognomien jenen gesellschaftlichen Positionen, die symbolische Gesetze unterlaufen (Artist, Anarchist, Mörder, Schwuler, Süchtiger, Schwachsinniger), die grimmigen hingegen den Vertretern des Gesetzes (Richter, Beamter, Soldat, Bulle, Heiliger, Priester). Doch wie bei den Untertiteln, die Charcot seinen Fotosequenzen des hysterischen Aktes hinzufügt, um die grotesken Körperverrenkungen und die leidenschaftlichen Gebärden seiner Hysterikerinnen auf einen klaren Nenner zu bringen (diese aber offensichtlich das Maß übersteigen), ruft auch Jürgen Klaukes ironisches Spiel mit Stereotypen – in dem die semantische Kodierung der Physiognomien nur zu offensichtlich ist – dennoch eine Unentscheidbarkeit hervor. Visualisieren die Gesichter die Begriffe, so daß der Körper und der Buchstabe zwar austauschbar wären, die Koppelung aber zwingend? Oder braucht es die Buchstaben, um das Gesicht überhaupt lesen zu können, wodurch die Bezifferung eine reduzierende aber gleichzeitig sinnstiftende Hinzufügung wäre? Unzweideutig hingegen ist der Umstand, daß diese Physiognomie gelesen werden will, und uns demzufolge eine hermeneutische Aufgabe stellt. Wir müssen eine derartige Sequenz von Portraits mit Bezeichnungen versehen, um ihr einen Sinn abzugewinnen.
Wie sehr nun aber das menschliche Antlitz zwar Teil des kulturell kodierten Kostüms sein mag, das wir uns anlegen, dennoch aber als Maske einer steten proteischen Bewegung unterworfen ist, die eine Festlegung verbietet, zeigt Jürgen Klauke auf besonders unheimliche Weise in der Arbeit Philosophie der Sekunde (1976). Das frontal aufgenommene Gesicht, dessen Hals mit Schmuck behängt ist, blickt ruhig in die Kamera, dann lächelt es, dann öffnet es seinen Mund. Dann nickt die Persona Jürgen Klauke,
schüttelt den Kopf, bringt die mit Ringen und einer Damenuhr geschmückten Hände ans Gesicht. Auch hier bezeichnet der Kontrast zwischen Brust- und Armhaaren und der Fülle an Juwelen eine Verwischung der Geschlechtergrenze, die über die Frage der sexuellen Zugehörigkeit hinausgeht. Denn sie korreliert mit einer durch die Bewegung des Gesichtes während der Aufnahme hervorgerufenen Veränderung der Körpergrenzen im Bild. Die Augen, der Mund, die Konturen der einzelnen Gesichtsteile haben sich aufgelöst, erscheinen doppelt oder mehrfach überlagert und bilden somit unterschiedliche unheimliche Erscheinungen: groteske Verzerrungen, Verwischungen, die Teile des Gesichtes unkenntlich machen oder die Einheit des Gesichtes in scheinbar unzusammenhängende Teile aufspalten. Im letzten Bild der Sequenz trägt die visuelle Überlagerung dazu bei, daß sich ein Abdruck des Gesichtes wie eine transparente Maske von seinem Modell losgelöst zu haben scheint, verschoben und gleichzeitig diesem noch immer verhaftet. Im Gegensatz zu den klassischen Hysterikerinnen von Salpêtrière – könnte man, um bei der Analogie zu bleiben, mutmaßen – hält Jürgen Klauke nicht still. Er spricht somit das Wandelbare des begehrenden, hartnäckig nach neuen Selbstbildern suchenden hysterischen Körpers an und ist gleichzeitig der selbstermächtigte Uhrheber dieser ›anderen‹ Gesichter, in denen sich die Logik der Heterotopie in das fotografische Verfahren selbst eingeschrieben hat. Der Widerspruch einer angehaltenen Bewegung erfährt hier eine Visualisierung: In diesen Physiognomien, die wie vom alltäglichen Antlitz unterschieden, dieses auch widerspiegeln und somit eine Verknüpfung von tatsächlichem und phantastischem Gesicht hervorbringen, die das menschliche Antlitz als eine nicht zu verortende, undefinierbare und gleichzeitig authentische Maske des Selbst feiern.


Die Leere jenseits des sexuellen Geschlechtes

Entstehen Jürgen Klaukes phantasievolle Selbsttransformationen auf der heterotopen Bühne einer angehaltenen Zeit, um dessen quälenden Druck abzudichten, geht es in seiner Formalisierung der Langeweile eher darum, diesen Zustand der Leere selbst zu kartographieren. In den früheren Arbeiten entpuppt sich das durchgeführte Glück der Verkleidung als ein Spiel mit geschlechtlich kodierten Versatzstücken, die die Lücke, die jeglichen Identitätsentwürfen eingeschrieben ist, durch einen Überschuß an sexuell kodierten Verkleidungen transformieren. In seinen Versuchen, die Leere im Sein zu formalisieren, bleibt Jürgen Klauke zwar auch bei einer Rhetorik des Fetischismus, die ihm erlaubt, »das Zuviel und doch Zuwenig ins Bild zu rücken«.(21) Die Qual der Langeweile wird auch hier vertrieben, indem sie durch Szenarien ersetzt wird, in denen Figuren die Gesten einer schmerzhaften Hingabe an die Langeweile durchspielen. Doch geht es weniger um ein fröhliches Durchlaufen einer Pluralität an Maskeraden, die einen, wenn auch unzulänglich, von dem Mangel im Sein ablenken. Wie Jürgen Klauke selbst erklärt: »Diese hysterische, schöne, aggressive, zärtliche Vitalität, also dieses Rauschhafte war auch mit den heftigsten Dosierungen nicht mehr herzustellen. Eine andere Realität, trotz aller Versuche, holte mich peu à peu ein. Diese unerträglichen Wiederholungen.«(22) In seiner Formalisierung der Langeweile werden sexuell-codierte Ersatzteile durch Alltagsgegenstände ersetzt – durch Stühle, Männerjacketts, Eimer, Fernseher, Pistole, Ständer mit Flasche, denn auch diese Gegenstände bilden Requisiten, mit denen wir unsere Identität bestimmen. Erklärt Jürgen Klauke doch, daß die Dinge unser Leben prägen und wir so wenig ohne sie vorstellbar sind wie umgekehrt.(23) Wie die Arbeiten zur ›Selbsttransformation‹ umkreisen auch die ›Formalisierungsversuche‹ ein hysterisches Aus-sich-heraus-
treten, jedoch weniger die leidenschaftlichen Gebärden, mit denen das Gefühl ›zu wenig und doch zu viel‹ zu sein am Körper eine Bildsprache erhält. Statt dessen ist dem hier inszenierten, aufgeladenen Stillstand eine Stimmung der Antizipation eingeschrieben, die eher an jenen auratischen Zustand erinnert, der den Ausbruch eines hysterischen Anfalls ankündigt. Apodiktisch formuliert könnte man sagen: Die lustvolle Flucht in den Tagtraum wird in der Formalisierung der Langeweile durch eine gegenläufige Bewegung ersetzt, nämlich durch das Trauma eines übermäßigen, erschöpfenden Verweilens beim Alltäglichen.
Der menschliche Körper wird auch hier zum Buchstaben in Fotosequenzen, deren Serialität eine Botschaft über die menschliche Fehlbarkeit zum Ausdruck bringt. Der Stuhl, den sich die männlichen Spieler dieser Szenen wiederholt über den Kopf stülpen, wirkt wie ein unheimliches Korsett, das den menschlichen Körper abstützt, aber auch einschränkt, ihn ausruhen läßt, aber auch zum Ausbruch treibt. Zudem wird aufgrund des zwiespältig gezeichneten Verhältnisses zwischen dem Geschlecht der Menschen und dem der Gegenstände, wie in den früheren Arbeiten zum Zwischenspiel von Mensch und Kostüm, die Faszination des eigenen
Verschwindens erprobt. Denn der über den Kopf gestülpte mit einem Jackett verhängte Stuhl schützt vor einem direkten Blick genauso wie er dem Künstler und seinen Mitmenschen erlaubt, sich hinter ihm zu verstecken. Wenn also in den Arbeiten zur ›Selbsttransformation‹ die Logik einer unausweichlichen Verflüchtigung in den Kostümen der Identität, die sich das Selbst anlegt, durchgespielt wird, verlagert Jürgen Klauke nun den Blick auf eine Ersetzbarkeit durch die Gegenstände, die das Selbst in seinem Alltag auch konstituieren. Teils ergibt sich in der Formalisierung der Langeweile dieses inszenierte Verschwinden des Ich, das wie in der Self Performance (1972/73) ein vorzeitiges Ableben des Selbst im Bild einführt, durch die visuelle Analogie zwischen dem lebendigen Menschen und dem leblosen Gegenstand: Mit einem über seinen Kopf gestülpten Eimer ähnelt Jürgen Klauke als
formalisierte Figur dem eine auslaufende Flasche haltenden metallenen Infusionsständer. Oder er stülpt sich einen Stuhl, über dessen Lehne ein Jackett gehängt ist, über den Kopf, so daß dieses Möbelstück nun wie sein eigenes Antlitz figuriert. Es ergibt sich somit eine andere Art ›strahlende Mischlingsfigur‹, nicht die Kreuzung der sexuellen Geschlechter, sondern die Verschmelzung von Mensch und Objekt. Dann wiederum lösen sich in diesen Fotosequenzen Einzelbilder eines leeren, mit einem Jackett behängten Stuhls ab mit Bildern, in denen Figuren auf diesen Stühlen sitzen, mal den Oberkörper von dem Jackett wie die Lehne des Stuhls bedeckt, mal das Jackett selbst am Oberkörper tragend. Dadurch gewinnt man den Eindruck, als diene die Verwischung der Grenze zwischen belebter Figur und Stuhl dazu, jene Sterblichkeit ins Bild zu rücken, die auch den menschlichen Körper zum leblosen Gegenstand werden läßt.
Brisant an der Veränderung der Tonlage, die sich zwischen den Fotoarbeiten der 70er Jahre und denen der frühen 80er Jahre ergibt, ist jedoch vornehmlich das Absehen einer erotischen Codierung der Körpersubstitute, die eingesetzt werden, um die von der Langeweile aufgedeckte Lücke im glücklichen Spiel mit der eigenen Identität zu verstellen. Wird in den früheren Arbeiten ein Hang zur Typologisierung der Identitätsgewänder, die sich das Selbst anlegt, um im Bild zu erscheinen, dekonstruiert, so trifft in der Formalisierung der Langeweile die Demontage oft diese sexuell codierten Maskeraden selbst. Die fröhliche Vorstellung, ein Spiel mit den Kostümen der Sexualität könne das traumatische Wissen der Unzulänglichkeit des Daseins dank einer Flucht in den Bereich der Phantasie verstellen, wird somit als Schutzdichtung entlarvt. Tatsächlich nimmt Jürgen Klauke die zeitgenössische Debatte um ›gender performance‹ somit nicht nur vorweg, er gerät auch gar nicht erst in die Sackgasse, die sich daraus ergibt, Identität immer als Frage der sexuellen Differenz auszuhandeln. Statt dessen hebt er den Umstand hervor, daß es ebenso wichtig ist, seine Aufmerksamkeit auf andere Unterscheidungen zu lenken, beispielsweise die zwischen belebtem und unbelebtem Körper, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Der bereits erwähnte Vorschlag, die hysterische Körpersprache nicht auf eine Botschaft über sexuelle Unzufriedenheit zu reduzieren, die von der Erwartung ausgeht, es könnte ein befriedigendes, erfüllendes sexuelles Verhältnis zwischen den Geschlechtern geben, wird beispielsweise in Jürgen Klaukes das ewig männliche – als ewig langweiliges (1980/81) ironisch inszeniert. Die drei Spieler – zwei mit dunklem Anzug und Hemd bekleidete Männer und eine nackte Frau – die mal stehend, mal sitzend in Andeutungen Gesten des Sexualaktes mimen, während unter ihren Stühlen oder auf den Stühlen an ihrer Stelle ein Fernseher steht, der diesen Sexualakt als Nahaufnahme abbildet, langweilen sich nicht, weil sie zu wenig sexuelle Ablenkung haben, sondern weil sich ein Überschuß an sexualisierten Zeichen im Bild eingefunden hat. Das somit zur Schau gestellte Gefühl des Überdrusses führt eine neue Komponente in die Klage der Langeweile ein: Man fühlt sich vom sexuellen Akt nicht ausgefüllt, weil ein zu viel an sexuell codierten Gesten und Gegenständen doch auch zu wenig ist und somit unweigerlich darauf verweist, daß auch diese Phantasien ungenügend sind, um ein grundsätzliches Gefühl der Leere schützend abzudichten. Die beiden männlichen Figuren blicken nämlich weder das Bild auf dem Fernsehschirm an noch die weibliche Figur, die sie berühren. Sowohl das Bild als auch der nackte Körper der Frau stellen zwar eine Verbindung zwischen den beiden bekleideten Männern her, dennoch signalisieren diese, daß sie, ob mit geöffneten oder geschlossenen Augen, ihren Blick nicht auf die sich abspielende Szene gerichtet haben. Sie sind zwar gemeinsam im Raum, teilen diesen aber mit den anderen nicht – als würde an diesem heterotopen Ort eine Überlagerung unterschiedlicher und miteinander nicht kommunizierender Phantasieräume stattfinden.
Auch bei diesen von Jürgen Klauke wiederholt durchgeführten Formalisierungsversuchen soll die Leere der Langeweile vertrieben werden, und zwar indem sie durch szenische Figurierungen umschrieben wird, die die quälende Wiederholung eines Zustandes, dem es an befriedigender Ablenkung fehlt, nachahmen. Dennoch hat sich der Tonfall sichtlich verlagert. Nicht der hartnäckige Glaube an die Macht der Selbstverwandlung steht im Mittelpunkt, sondern die nüchterne Erkenntnis, daß die Unzulänglichkeit jeglicher Ablenkungen einen unweigerlich einholt. Daran ist auch ein Blick geknüpft, dem es nicht mehr um Erotisierung geht. Dienten die übertriebenen Kostümierungen und Gesten in den Arbeiten zur Selbsttransformation der Feier eines polyvalent sexuell bezeichneten Körpers, wirkt in diesen Formalisierungsversuchen gerade der nackte Körper der Frau gänzlich enterotisiert. Man gewinnt den Eindruck, bar jeglicher Attrappen und Kostümierungen stellt diese entblößte Figur die Versehrtheit der menschlichen Existenz par excellence dar, jene Unzulänglichkeit also, die mit dem Rückgriff auf Versatzstücke und Ersatzkörper abgedichtet werden soll. So sitzt sie auch in einer Sequenz ganz alleine im Raum auf dem Fernseher, wendet ihren Blick für eine Weile den pornographischen Bildern, die dort ablaufen zu, und blickt dann doch wieder in die Leere des Raumes. In einer anderen steht sie auf dem Fernseher, während der Künstler auf einem Stuhl neben ihr sitzt und ihr den Rücken zugewandt hat. Mal starrt er vor sich hin, mal stützt er seinen Kopf auf dem tragbaren Fernseher ab. Dann hat er die Szene verlassen. Doch sie verweilt weiter im Raum. Wie der Transformer (1972/73) hat auch sie eine Armgestik eingenommen, die die Frage aufwirft, was es bedeutet, für die übertriebene Weile immer wieder neue, an Figuren und Gegenständen orientierte Sätze zu finden, diesen Kreislauf der Wiederholung jedoch nicht verlassen zu können. Mit dieser Haltung spricht auch sie das ›schöne Scheitern‹ an, das nicht nur dem menschlichen Wunsch, ausgefüllt zu sein, eingeschrieben ist, sondern auch dem Versuch, für die Lücke im glücklichen Verweilen in der Welt, adäquate Formeln zu finden, die die störende Botschaft der Langeweile gelungen vertreiben würden. In der Haltung der Antizipation einer Veränderung erstarrt, dient sie der Visualisierung reiner Kontingenz: Alles könnte passieren und nichts passiert. Der Ausbruch aus dem Kreislauf der erschöpfenden Wiederholungen könnte gelingen, aber dafür gibt es keine Bildsprache.
Denn Jürgen Klauke selbst gibt zu, daß ihm der Titel Formalisierung der Langeweile gerade deshalb so gut gefällt, »weil da so ein ›als ob‹ mitschwingt – als könne man sie in den Griff bekommen – wäre ja noch schöner«.(24) Dabei spricht er jenen zentralen Widerspruch an, um den die hysterische Körpersprache unweigerlich kreist: Gerade weil man weiß, daß jeder gewählte Selbstausdruck nie ausreichen wird, um das Gefühl von Leere zu vertreiben, das einen die Vergeblichkeit aller imaginären und symbolischen Selbstentwürfe anzuerkennen zwingt, läßt man sich auf einen wiederholten Versuch der ›Selbsttransformation‹ ein. Aufgrund der grotesken Übertreibung, dem Übermaß an Ersatzteilen, die den Mangel im sexuellen, aber auch im menschlichen Geschlecht abdichten sollen, ist jede Inszenierung des Selbst immer zu viel. Dabei verfehlt sie ihr Ziel und bringt somit genau das ›zu wenig‹, das es zu bannen gilt, wieder ins Bild. Hysterische Körperbilder folgen der Rhetorik des ›als ob‹ jedoch nicht nur, weil sie dank der Übertreibung sich als Simulation, als Aneignung des anderen entpuppen wollen, zwar von einem realen Unbehagen ausgehend, dieses jedoch bewußt in der Darstellung, als Körperbild zum Ausdruck bringend. Sie folgen auch der Rhetorik des ›als ob‹, weil, wie Jürgen Klauke in seiner Demontage der Typologien festhält, keine Umwandlung und keine Formalisierung je alles beinhalten kann, was es zum Menschen auszudrücken gibt. Dieses dem Verfahren der Repräsentation eingeschriebene Scheitern, wie die Leere der Langeweile, kann aber durchaus auch produktiv begriffen werden, löst es doch auch einen unermüdlichen Drang aus, eine Sprache für das Ungenügen zu erproben, daß den Menschen heimsucht. Jürgen Klaukes Versuch, immer wieder neue Sequenzen für eine Störung zu entwerfen, die sich dessen Visualisierung auch immer entzieht, stellt nicht nur eine Art mit dem Mangel im Sein umzugehen dar, die uns jenseits der sexuellen Differenz führt. Sie spricht auch ein Tabu unserer Kultur an, das wahrscheinlich schärfer ist, als die Verbote und Normierungen, die unsere Sexualität regulieren: daß wir uns in der christlich-
bürgerlichen Kultur nicht langweilen dürfen. Jürgen Klaukes Beharren darauf, »sich ihrer nicht zu entledigen«25 und statt dessen das unliebsame, uns entweder ermüdende oder belebende Scheitern jeglicher Identitätskonzepte anzunehmen, sich der Vergeblichkeit der Existenz ausgiebig hinzugeben, hat seine strahlende Wirkung noch lange nicht verloren.


Anmerkungen

  1. Roland Barthes par Roland Barthes. Paris 1976, S. 24
  2. Siehe dazu Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998
  3. Jürgen Klauke im Gespräch mit Hans-Michael Herzog und Gerhard Johann Lischka. In: Kunst heute Nr. 19. Köln 1997, S. 65
  4. Für diesen Hinweis wie für die Anregung zu diesem Text danke ich Muriel Gerstner.
  5. Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis.
    Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34-46
  6. Wie Anm. 3, S. 41
  7. Vgl. Sigmund Freud: »Fetischismus«. In: Gesammelte Werke XIV. Frankfurt a.M. 1948, S. 313
  8. Wie Anm. 3, S. 37
  9. Wie Anm. 3, S. 93
  10. Peter Weibel: »Selbstsein und Anderssein«. In: Jürgen Klauke. Cindy Sherman. München 1995, S. 30
  11. Vgl. Harry Brod: »Masculinity as Masquerade«. In: The Masculine Masquerade. Masculinity and Representation. Cambridge, MA 1995, S. 13-19
  12. Wie Anm. 10, S. 29
  13. Vgl. Peter Weibel: Der anagrammatische Körper in der Kunst. Köln 2000
  14. Diese Formulierung und andere Anregungen verdanke ich Martin Jaeggi.
  15. Wie Anm. 13, S. 29
  16. Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Suversion of Identity. London/New York 1990 und Jennifer Blessing: A Rose is a Rose is a Rose. Gender Performance in Photography. Ausstellungskatalog, Guggenheim Museum, New York 1997, S. 18-20
  17. Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«. In: Gesammelte Werke XII. Frankfurt a.M. 1947, S. 247
  18. Vgl. Slavoj Zizek: Metastases of Enjoyment. Six Essays on Woman and Causality. London 1994
  19. Vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997
  20. Wie Anm. 13, S. 29-30
  21. Wie Anm. 3, S. 28
  22. Ebenda
  23. Wie Anm. 13, S. 32
  24. Wie Anm. 3, S. 30