Uwe M. Schneede

KÖrper, Figur, Bild

zu Jürgen Klaukes Fotografischem Werk



Jürgen Klauke - Absolute Windstille
Kunst- und Austellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001




Zwischen Zeichnung und Wirklichkeit: das Foto

Seinen Übergang von einem Medium zum anderen, von der Zeichnung zur Fotografie, hat Jürgen Klauke auf eine programmatische Weise veranschaulicht in der Publikation Juergen Klauke (Ich & Ich) erotographische tagesberichte mit dem Untertitel Tageszeichnungen & Fotos (Dinge Situationen Umgebungen) Okt. 70–Febr. 71, erschienen 1972 im Selbstverlag. Die erste Hälfte der Publikation enthält Federzeichnungen von montierten und amputierten kopflosen Körpern, die mit ihrer doppelgeschlechtlichen Aufladung und den fetischisierten Bandagen, Gurten, Verschnürungen traumatisch und obsessiv von der Frage nach der Identität handeln. Es war die Zeit des Aufbruchs, und die Zeichnungen sind auch als aggressive Verletzungen gesellschaftlicher Normen und Tabus zu verstehen.
Im zweiten Teil des Buches finden sich ausschließlich Fotos, zunächst eine Serie von en-face-Selbstbildnissen (bärtig, geschminkt), dazwischen beringte Hände, dann Aufnahmen von Wäschestücken, Prothesen, Puppen, dann von medizinischen Geräten, verlassenen Industriebezirken, wobei – bezeichnend für diese Phase des Experimentierens – zuweilen offen bleibt, was Werk ist und was Dokument. Ein weiblicher Akt wird eine 22teilige Polaroidserie lang verschnürt. Dann ausgestopfte Trikots, deformierten Puppen ähnelnd, in desolaten Situationen der Folter, des Todes, alles hergerichtet vom Künstler. Zum Schluß ein
harter Umschlag: aus einer kriminologischen Publikation Dokumentarfotos von autoerotischen Begebenheiten mit ungewollt
tödlichem Ausgang.
In raschen Schritten wurde hier demonstrativ der Übergang vollzogen von der subjektiven Niederschrift der Zeichnung, in der bereits von Sexualität und Gewalt die Rede ist, zur objektivierenden Fotografie, die Motive der Zeichnungen auf tatsächliche Körper überträgt, schließlich zur kalten Registratur des schrecklichen Todes draußen in der Wirklichkeit. Das Buch sagt: Der Zeichner will zur Sache gehen. Sein Werk sollte sich bald genau in dieser Zone zwischen subjektiver Niederschrift und brutaler Wirklichkeit, zwischen Formbewußtsein und direktem Zugriff, in einer Formulierung der Zeit: zwischen Kunst und Leben abspielen. Das sind die Pole dieses Werks, durch die es gleichermaßen inspiriert und in Gang gehalten wurde.
Warum die Fotografie? Die Zeichnung, wie Klauke sie damals handhabte, ist fast grenzenlos erfinderisch, ist unbedingt, man kann mit dem Motiv, dem Körper, alles machen. Aber sie bleibt subjektiv und hermetisch. Die Fotografie, wie Klauke sie nun verwandte, ist bedingt, sie erlaubt nur, was ein Körper mit Kostüm, Maske und Requisite vor einer gewöhnlichen Kamera herzustellen vermag. Die Grenzen sind enger, aber der Realitätsgrad ist höher, die Einmischung intensiver (das Ich & Ich-Buch mit seinen Dokumentarfotos hat es deutlich genug demonstriert). Und das Persönliche wird verallgemeinert.
Das erste große Resultat, das Klauke denn auch für Jean-Christophe Ammanns mittlerweile legendär gewordene Ausstellung Transformer. Aspekte der Travestie 1974 im Kunstmuseum Luzern empfahl, war die Fotofolge Self Performance von 1972. Ein Mann, der Künstler selbst, präsentiert sich in verschiedenen Posen im selbstgemachten Hochzeitskleid mit Lilienstrauß oder ausstaffiert mit monströsen Anbauten männlicher und weiblicher, primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale: Verlängerungen der Zeichnungen ins faktisch Körperliche und dann in die Fotografie. Das gilt auch für die zweiteilige farbige Arbeit Umarmung von 1973/74, die extrovertierte Körperhaltung, die phallusartig verlängerten Brustwarzen, die (an ein Motiv in Luis Buñuels Un chien andalou von 1928 erinnernde) Vagina in der Achselhöhle.
Es waren dies Experimente am eigenen Körper. Klauke erprobte Verschiebungen, Durchdringungen, Vereinigungen der Geschlechter, er erkundete die Grenzen der Moral und des Geschmacks, um sie erfahrungshalber zu überschreiten. Noch die clowneske
Inszenierung diente dieser experimentellen Auslotung der Möglichkeiten des Ich und damit der Suche nach Identität.
Eines will schon hier und fürs ganze weitere Werk von Jürgen Klauke festgehalten werden: Die Bilder sind nicht Zeugnisse einer Aktion, also Standfotos aus einer laufenden Handlung. Seit Mitte der 70er Jahre hat Klauke zwar auch Aktionen vor Publikum durchgeführt, aber die davon existierenden Aufnahmen sind reine Dokumentation. Das Werk war die Aktion, das Foto berichtet nur vom eigentlichen Werk. Klaukes Fotoarbeiten dagegen sind Stück für Stück eigens konzipiert und gestellt, ohne Bühne, ohne Publikum, nur für die Kamera: Das Foto ist das Werk.
Der Prozeß der Werkentstehung war in dieser frühen Zeit noch verhältnismäßig einfach. »Man hat eine Idee«, sagt Klauke, »und tut’s«; man besorgte die Requisiten, suchte sich irgendwo draußen oder in der Küche oder im Bad eine passende Situation; Polaroid war wegen der Schnelligkeit der Resultate und der sofortigen Überprüfbarkeit besonders beliebt. Ganz am Anfang wurde bei der Kamera mit Selbstauslöser gearbeitet, ab 1973 (Transformer, Eine Ewigkeit ein Lächeln) stand ein befreundeter Fotograf bereit. Klauke gab das Zeichen, und dann wurde ausgelöst.
Vermieden wurde in diesen Arbeiten die Brillanz professioneller Fotografie, und auch die Rahmung sollte eher einfach wirken: die widerständigen 70er Jahre. Es wollte auch nicht die statische Behauptung eines Einzel- oder gar Meisterwerks erhoben, sondern etwas vermittelt, es wollte argumentiert werden. Daher die Serie, die Reihe, die Sequenz. Sie ergeben bei Klauke selten eine Handlung, zeigen aber unterschiedliche Ansichten, Ausschnitte, Positionen oder Varianten, die sich zu einem komplexen Gesamtbild zusammenfügen. Für diese Erzählform ohne Handlung wird Klauke schließlich das Tableau als die adäquate anschauliche Form entwickeln.


Kurzer Blick zurück und zur Seite

Erst durch die Generation von Jürgen Klauke ist die Fotografie ein spezifisches Medium für Künstler geworden. Zuvor hatten
bildende Künstler die Fotografie innerhalb ihres Gesamtwerks neben der Malerei eingesetzt, z.B. Charles Sheeler in den USA, Alexander Rodtschenko in der Sowjetunion, Laszlo Moholy-Nagy in Deutschland, Man Ray in Frankreich. Aber ein künstlerisches Medium aus eigener Berechtigung zur Herstellung von selbständigen Bildern analog zur Malerei wurde die Fotografie erst in den späten 60er und in den frühen 70er Jahren, als bildende Künstler sich zum erstenmal vornehmlich oder gar ausschließlich in
diesem Medium auszudrücken begannen. Durch sie und in ihrer Tradition ist die Fotografie heute – parallel zur professionellen Fotografie – zu einem schöpferischen Medium ersten Ranges geworden.
Erinnern wir uns an die innerhalb des Mediums ganz unterschiedlichen Aufbrüche. 1966 entstand Edward Ruschas Every Building on The Sunset Strip; Bernd und Hilla Bechers wegweisende Publikation Anonyme Skulpturen erschien zum erstenmal 1970; ebenfalls 1970 begann William Wegman seine Fotoarbeit mit dem Weimaraner, den er Man Ray nannte; Katharina Sieverdings erste vervielfachte Selbstbildnisse wurden zwischen 1969 und 1972 gemacht, ähnlich wie Bernhard Johannes Blumes erste mystifizierende Sequenzen; Valie Export startete 1972 ihre Körperfigurationen; ebenfalls Anfang der 70er Jahre begannen Christian
Boltanski und Jochen Gerz ihre Arbeit mit Fotografie; Urs Lüthis Transformer-Aufnahmen wurden 1973 entwickelt.
Aus unterschiedlichsten Gründen eigneten sich die bildenden Künstler die Fotografie an. Das aber geschah stets auf einer
konzeptuellen Grundlage. Nicht das Einzelbild war von Interesse, sondern der gedankliche Zusammenhalt, der sich durch Serien, Folgen, Sequenzen und Vervielfachungen konstituieren ließ. Diese Tatsache war bald darauf Thema mehrerer Ausstellungen.(1)


Figur als Bild

Bereits in den frühen Arbeiten sind die Grundzüge des Klaukeschen Bildverfahrens auszumachen. Bildfigur ist stets der Künstler selbst, Autor und Akteur in einem. Er inszeniert sich selbst, d.h. er posiert in Kostüm und Maske, ausgestattet mit oft karikaturistisch überzogenen Accessoires. Von Selbstportraits zu sprechen, scheint nicht ratsam. Denn Klauke lotet ja nicht sich selbst in seinen verschiedenen Facetten mit diesen oder jenen Abgründen seiner Persönlichkeit aus, sondern er stellt anhand seines eigenen Körpers Figuren dar, und er stellt mit den Requisiten Bilder her, in denen es um bestimmte Themen geht, um Sexualität, Gewalt, Einsamkeit. Er macht seine Figur zum Bild.
Ein Bild redet zwar von seinem Autor, geht aber weit darüber hinaus. In Rezensionen der 70er Jahre ist zu lesen, das Gefühl der Peinlichkeit sei vor diesen Arbeiten nicht zu leugnen, weil man ins Intimste des Künstlers vordringe, der außerordentliche
psychische Notstand, das individuelle Krankheitsbild dieses Menschen Klauke träte zutage, und andere stellten sich die Frage, ob dieser Künstler ganz einfach nur seinen persönlichen Neigungen folge, als Schwuler, Transvestit, Fetischist oder sonstwas. Der Darsteller wurde mit dem Dargestellten verwechselt.
Gewiß handelt Klauke in seinen Bildern von etwas, das ihn zutiefst bewegt, schließlich ist er nicht nur Darsteller, sondern auch der bezeugende Erfinder seiner Figuren, aber es handelt sich stets um eine objektivierende Inszenierung mit eben dazu eingesetzten theatralen Mitteln, mit deren Hilfe persönliche Erfahrungen und Sehnsüchte umgesetzt werden.
Aufschlußreich mag der Vergleich mit Urs Lüthi sein, etwa mit The Numbergirl von 1973. Auch Lüthi war sein eigener Akteur, auch er hatte damals Lust an der exhibitionistischen Schaustellung und an einer Verwandlung, welche die Grenzen zwischen den Geschlechtern verwischt. Es herrscht auch bei beiden eine Atmosphäre der Einsamkeit und der Isoliertheit. Doch wo Klauke betont aggressiv, provokant, zuweilen schräg ist, verbreitet Lüthi in seiner persönlichen Sehnsucht nach Schönheit ein Gefühl elegischer Trauer über den Verfall und den Tod.
Im Gegensatz zu Cindy Sherman, deren schwarzweiße Film Stills ein wenig später, 1978–1980, entstanden, schlüpfte Klauke nicht in stereotype Rollen, im Gegenteil: Er unterlief gesellschaftlich vorgegebene Rollen systematisch, vor allem durch die Verschränkung von Weiblich und Männlich in einer Figur. Er spricht von seiner »lustvolle(n) Aneignung des Weiblichen oder des Anderen, damit Infragestellung des ›ewig Männlichen‹ genauso wie des ›ewig Weiblichen‹. Also Brechung der tradierten, beschränkten Vorstellungswelten, wie was zu sein hat.«(2) Auch hier die kritische Widerständigkeit der 70er Jahre.
Die Hintergründe (»Bühne«) sind zumeist neutral, die Beleuchtung setzt keine auffälligen Akzente. Die Fotografie ist anonym, das ganze Gegenteil von künstlerisch ambitionierter Fotografie, allenfalls kommt eine geringe Untersicht vor. »Mir ging es«, so Klauke, »nie um Fotografie, mir ging es ums Bild.«(3) Es ist nicht die Fotografie, es ist die inszenierte Figur, die das Bild ausmacht.


Aufbegehren und Groteske

Von 1976/77 gibt es zwei Fotoserien, die den Höhepunkt kritischer Auseinandersetzung mit der Zeit bildeten, die blasphemischen Grüße aus dem Vatikan und die Satire Dr. Müller’s Sex-Shop oder So stell’ ich mir die Liebe vor (eine Anspielung auf einen ziemlich kitschigen Zarah-Leander-Schlager, in dem sich »… Liebe vor« auf »Engelchor« reimt). Buñuels Begegnung eines bestrumpften Frauenbeins mit einer Monstranz in L’âge d’or von 1930 war ein Skandal. Klauke zitierte diese Sequenz in Grüße aus dem
Vatikan und ging dann manch einen Schritt weiter: Klauke – mit dem Ministranten Marcel Odenbach – im Ornat segnend, trinkend, unter seinem Mantel eine Frau in Dessous, Klauke selbst in weiblichen Dessous, umgeben von allerlei katholischem Gerät.
In Dr. Müller’s Sex-Shop übernehmen dagegen auf ebenfalls grotesk überzogene Weise Gerätschaften aus dem Sexshop die Herrschaft, nicht von Sexualität ist die Rede, sondern von Substraten und Geschäften. Am Ende eine Großaufnahme des in unbändiges Gelächter ausbrechenden Künstlers.
Klauke hat berichtet, wie sehr ihn in dieser Zeit des Umbruchs alles mitgerissen habe, was in der stagnierenden Nachkriegskultur durch »Sinnlichkeit und Aggressivität [...] befreiend und inspirierend« gewirkt habe, vor allem der Rock’n Roll, der Underground, die Subkultur in ihrem »Treibhaus der Experimente und ab und zu des Wahnsinns«; »Antonin Artaud wurde für eine Weile [...]
reanimiert«; »Nicht nur die Instrumente waren verstärkt, auch die Botschaften.«(4)
Es scheint, als ob Klauke mit seinen Fotofolgen der 70er Jahre die Lautstärke, die Tabubrüche, die Extrovertiertheit des Rock und die forcierte Antibürgerlichkeit des Underground in die bildende Kunst habe übertragen wollen. Als Person wirkte er damals stets wie ein waghalsiger Grenzgänger zwischen diesen Welten, der, ledern gepanzert, jedenfalls übers Bürgerliche längst hinaus war. Durch ihn wurde die Kunst direkter, schriller, schmutziger, öffentlicher. Bezeichnend ist für dieses Show-Element auch die vorherrschende Farbe: das herausfordernde grelle Rot der Kostüme, der Maske und der Requisiten in Folgen wie Transformer, Eine Ewigkeit ein Lächeln oder Rot.
Wenn Klauke sich hier auf Artaud und bei anderer Gelegenheit auf Georges Bataille berief, wurde seine Herkunft aus dem
surrealistischen Gedankengut vollends deutlich. Weniger die surrealistischen Bildpraktiken dürften ihn angeregt haben als die Vorstellungen von der subversiven Kraft der Begierde, der Perversionen und des Skandals, von der Lust an Tabu und Übertretung von Verboten, vom Recht auf Wahn. Es ist im Grunde die Freiheit zur rebellischen Aktion, die Klauke aus dem Surrealismus hat beziehen können. Als Vorläufer Klaukes ist in diesem Zusammenhang häufig Pierre Molinier (1900–1976) genannt worden, ein Surrealist der späten Stunde, Freund André Bretons, der 1966 begonnen hatte, in komplizierten Verfahren des Fotografierens und Montierens Werke fotografischen Charakters herzustellen, in denen er ausschließlich sich selbst als weibliches Pin-up präsentierte. Moliniers durchgehendes Thema: der weibliche Mann, die vermännlichte Frau – eben jener übergängige Geschlechterbezug, der auch Klauke in den 70er Jahren beschäftigte. 1972 publizierte Peter Gorsen ein Buch über Molinier,(5) das er bald darauf Jürgen Klauke sandte. Der bezeugt, daß insbesondere die Fotofolge Rot aus den Jahren 1973/74 von Molinier beeinflußt worden sei, ja als »eine kleine Hommage« bezeichnet werden könne.(6)
Hatte Klauke die Fotos anfangs herkömmlich in Blöcken oder in einer einfachen Reihe angeordnet, entwickelte er in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eigene Formen der Präsentation, nämlich Tableaus mit genauer Festlegung von Abfolge, Anordnung und
Dramaturgie, beispielsweise für Philosophie der Sekunde von 1976 oder Ich dachte, ich wäre tot von 1977. Zuweilen wurden die Fotos um der Bilddramaturgie willen in unterschiedlichen Formaten abgezogen, etwa für Rein – Raus von 1976.
In diesen essayistisch anmutenden Formen ergaben sich andere Lesemöglichkeiten: nicht nur von links nach rechts, sondern auch von oben nach unten, von der Mitte nach außen, von außen nach innen. Bildgefüge und Bildsprache wurden auf diese Weise komplexer wahrnehmbar. Das Bild erschien nun auf drei unterschiedlichen Ebenen mit jeweils eigener Ästhetik: als Figur, als Foto, als Überform des Tableaus. Das Tableau wurde spezifisch für das jeweilige Werkvorhaben entworfen. Innerhalb dieser Gesamtgestalt bekam jedes Foto einen fixen Ort, anders würde die Erzählung nicht funktionieren. Bei einer solchen Konstruktion konnte es durchaus zu einer Art von Handlung kommen – man denke an den Wechsel der Geschlechter in Rein – Raus.
In den 80er und 90er Jahren sollte Klauke diese präzisen dramaturgischen Konzepte entschieden ausbauen. Bereits in den 70er Jahren zeigte sich, daß sie wie zwangsläufig zur Konsequenz seiner künstlerischen Arbeit mit Fotografie gehören.


Formalisierung in den 80er Jahren

Dann die Wende, formal mit Viva España von 1976–1979, inhaltlich mit Formalisierung der Langeweile ab 1980. Mit Viva España begann die Serie der lebensgroßen Formate in Schwarzweiß. Statt der drastisch-satirischen, oft provokanten, bunten Szenen nun die strenge Konzentration auf reduzierte Figurenkonstellationen. »Die Dinge, die gemacht sind, in eine andere Form übertragen«, nannte Klauke diesen Übergang.(7)
Ein mit einem Anzug dunkel bekleideter Mann und eine von ihm so gehaltene Frau, daß die Gesichter nicht, ihr Körper kaum, dafür ihre bestrumpften Beine mit Stöckelschuhen sichtbar sind: Varianten einer doppelgeschlechtlichen Figuration. »Beide Teile der Doppelfigur«, hat Stephan von Wiese formuliert, »sind zugleich im Stadium der Lust wie der Vergewaltigung und somit im Zustand eines gemeinsamen Identitätsverlustes«.(8)
Mit Formalisierung der Langeweile tritt das Thema der Geschlechtlichkeit zurück. Wiederkehrende Objekte sind Handlungspartner des Akteurs, Stuhl, Jackett, Eimer, allenfalls ein Fernsehgerät. Die Figur handhabt die Objekte, die Objekte verbergen die Figur oder Teile von ihr, die Objekte scheinen gelegentlich die Herrschaft zu übernehmen, etwa wenn die Figur sich einen Stuhl überstülpt und die Bilder von nun an im unklaren lassen, ob die Figur den Stuhl oder der Stuhl die Figur in Bewegung hält.
Ebenso bleibt in der Schwebe, ob die Gegenstände in diesen Aktionen sie selbst bleiben, oder ob sie symbolische Züge annehmen. Eindeutig wären diese Züge jedenfalls nicht. Immerhin scheint der Eimer der Figur etwas Eintöniges, wenn nicht Stumpfsinniges hinzuzufügen, er könnte auch auf ein Ende hinweisen. Der Stuhl nimmt eine Position zwischen Eimer und Figur ein, gelegentlich mit Jackett ›bekleidet‹ und zum Eigenleben tendierend; vielfach auftretend, signalisiert er Leere, Abwesenheit, Endgültigkeit. Der Fernseher vermittelt Wirklichkeit von außen in das Konstrukt der Szene.
Mit Selbstportraits sind diese Bilder nun gar nicht mehr, wie noch in den 70er Jahren, zu verwechseln. Die provokanten Fragen der Moral sind zurückgenommen, was autobiographisch anmuten könnte, ist vermieden, das Individuum hat sich in einen Jedermann verwandelt. Die Form ist abgeklärt, der Aufwand reduziert, die Gesamtanlage erinnert mit Symmetrie und flügelartigen Seitentafeln an Altäre, der Akteur tritt in den Dienst einer Szenerie und ist jetzt ein Mann ohne Eigenschaften. In ruhigem Verlauf sind Szenen des Absurden und der Vergeblichkeit einander so zugeordnet, daß der Eindruck einer Handlung erweckt, aber nie eingelöst wird. Ein resignativer Ton liegt über den Szenen.
Ganz andere Elemente als in den Werken der 70er Jahre spielen jetzt eine wesentliche Rolle: die zum Skulpturalen neigenden
Formen, die Stille der bühnenräumlichen Situation, die verlangsamte Zeit, überhaupt die Mächtigkeit des Entwurfs. Der Fotografie wächst hier eine neue Dimension zu. Diese Bilder treten mit der ganzen Präsenz, Würde und Wucht von Gemälden auf und sind doch Fotos. Jürgen Klauke hat der Fotografie die Größe und die Monumentalität abgewonnen (und damit einer jüngeren Generation den Weg bereitet).
Man erahnt es schon vor diesen Werken der 80er Jahre, daß sie entschieden sorgsamer konzipiert sind als die voraufgegangenen, in denen Spontaneität und Improvisation immer noch eine wesentliche Rolle spielten. Formalisierung der Langeweile war von vornherein als umfangreicher Werkkomplex gedacht, Planung also in einem ganz anderen Maße vonnöten. Maßgebliche Form-Anregungen kamen aus den weiterhin (und bis heute) entstehenden ›freien‹ Zeichnungen, dann aber begann Klauke damit, in einem Werkbuch Skizzen zur Gesamtdramaturgie einer Arbeit anzulegen: Wie ist die Anordnung der Fotos, womit wird begonnen, mit welchem Motiv geendet, wo wird das Motiv angeschnitten, nähergerückt oder aus mittlerer Distanz gesehen, was ist mit der Symmetrie der Gesamtanlage, wie sind die Körperhaltungen, wo sitzt die Figur nach rechts und wo nach links gewandt? Eine Art Storyboard also. Dazu kamen ganz knappe szenische Anweisungen.
Dabei ist anzumerken, daß die Sprache mit ihrer eigenen Bildlichkeit für Klauke eine besondere Bedeutung hat. Schon die frühen Zeichnungen waren von literarisch anmutenden Texten begleitet, die neben dem Gezeichneten ihr eigenes Leben führten. In seinen Skizzenbüchern können sowohl Beschreibungen von Aktionen als auch Auflistungen von Wörtern die Fotofolgen begründen, und dort finden sich ebenfalls lange Serien von Begriffen; sie dienen der Suche nach Werktiteln. Gewählt werden sie auch nach ihrer phonetischen Kraft, die Klauke ähnlich einschätzt wie eine bildnerische Kraft. Die Titel sollen etwas Selbständiges haben, das indes von fern doch so viel mit den Bildern zu tun hat, daß sie sie verstärken. Über Zeichen, Anspielung, Sprachbild, Begriff will Klauke »eine Ahnung für die Existenzfragen herstellen«, die er in seinen Werken aufwirft.
Danach entstehen in einem professionell eingerichteten Studio Probeaufnahmen der möglichen Konstellationen unter den definitiven Bedingungen. Das Konzept liegt nun weitgehend fest, es sind auch Vorentscheidungen zum Format der endgültigen Abzüge gefallen. Die Phase der Realisierung bringt in der Regel einen weiteren »Inspirationsschub« mit sich. Zwei bis vier Wochen wird im Studio gearbeitet. Für die neueren Werke ist zuvor noch ein Casting durchzuführen, wenn weitere Akteure aufzutreten haben, es müssen zuweilen die Möbel und Objekte eigens entworfen und in Auftrag gegeben werden. Schließlich gehen die lebensgroßen Abzüge in Produktion. Dies ist zur Entstehung noch zu betonen: Es gibt während des Prozesses keinerlei digitale Eingriffe, es wird nur mit analogen Verfahren gearbeitet.


Durchblicke

In der zweiten Hälfte der 80er und zu Beginn der 90er Jahre eine überraschende Wende, die Reihe der Prosecuritas-Arbeiten. Wiederum ist häufig er selbst, Jürgen Klauke, im Bild, abfotografiert aber ist sein Röntgenbild: Skelett, Schädel mitsamt einigen mehr oder minder gut zu identifizierenden Gegenständen. Entstanden sind die Arbeiten mit Hilfe eines jener flughafenüblichen Kofferschächte. Klauke ließ sich selbst durchleuchten, kontrollierte und steuerte das Arrangement auf dem Bildschirm – die Helldunkel-Verhältnisse, die Schärfen, die Raster, die Ausschnitte, die Tiefenschichtungen –, fotografierte das Bild auf dem Monitor und erarbeitete dann auf dem Leuchttisch, zuweilen mehrere Negative kombinierend, das eigentliche Bildresultat.
Das Durchleuchtungs- und Diagnosegerät war umfunktioniert in ein bildschaffendes Medium, dessen Gesetzmäßigkeit aber nur unkörperliche, entfleischte, aufs harte Strukturelle beschränkte Bilder gestattet. Statt der Diagnose: neue Geheimnisse. Denn was soll an diesen Bildern zu deuten sein, wenn alles normalerweise Sichtbare durch den Bildprozeß entschwunden ist, der Bildprozeß also das Deutbare entzieht und nur mehr das Anatomische beläßt, das allenfalls medizinisch deutbar wäre? Gleichwohl gibt es erneut ein Bild – nicht vom Sichtbaren, sondern vom Unsichtbaren.
Daß wiederum ein Bild entsteht, hat mit der apparativen Genese dieser Bilder zu tun. Klauke arbeitete schließlich mit zwei unterschiedlich wirksamen, ja gegenläufigen Apparaten: der Röntgenaufnahme und der Kamera. Wo die eine den Körper auflöste, rekonstruierte die andere das Bild.
Die menschliche Gestalt ist durch das Medium Röntgenaufnahme, wie Peter Weibel formuliert hat, zum Phantom mutiert.(9) Das Bild vom Phantom ist ein Bild aus Strahlen, die Strahlung daher ein Thema dieser Werke, die substanzauflösende Strahlung, die zerstörerische Strahlung. Was vom Sichtbaren, vom Lebendigen, vom Menschen, vom Körper geblieben ist, sind Rückstände einer Katastrophe. Bis an die Grenze des Darstellbaren gehend, handelt Jürgen Klaukes Werk von den Grenzen des Lebens und der Existenz.
Vielleicht geht es noch um etwas weiteres, nämlich einen kritischen Reflex auf die Welt der modernen Medien. Die Kamera bezeugt, wie die Wirklichkeit durch die (Elektroden-)Strahlen zum Phantom deformiert wird, wie Medien also die Wirklichkeit vernichten. In jedem Fall geht es in diesen Prosecuritas-Bildern um letzte, um existentielle Fragen.


Körper – Teile

Zurück zur klassischen Fotografie. Sonntagsneurosen aus den frühen 90er Jahren: Die weiterhin sehr großformatigen, sich nun in der Regel wieder horizontal reihenden, klassisch anmutenden Fotos, die ihr Schwarzweiß gelegentlich aufgegeben haben und dann von einem Blauton bestimmt werden, sind, wie zu Beginn, von einer anonym wirkenden Kamera aufgenommen. Alle Sorgfalt steckt in der karg beleuchteten Figur-Objekt-Konstellation vor neutralem Grund.
Es wird im Werk der letzten Jahre vollends offenbar, daß Klaukes Bilder in jedem Fall Konstrukte sind. Er selbst hat »die nicht so ganz lebensnahe Konstruktion von Realem« hervorgehoben.(10) Eine erfundene Figur, die nunmehr allein durch ihre gleichbleibende Kleidung wiedererkennbar ist, eine Kunstfigur also, bewegt sich in erfundenen, künstlichen Situationen. Dieses Konstrukt, diese Künstlichkeit wird plausibel gemacht und wieder in Lebensnähe gerückt durch die Fotografie, die – gerade in der Funktion unbeteiligten Aufzeichnens wie hier – den Charakter des Dokumentarischen hat und damit dem Konstrukt den Anschein des Realen verleiht.
Die Figur und das gleichberechtigte Objekt oder Objektensemble (das auch übermächtig werden kann) vollziehen in einem offen-gelassenen Ablauf ein stets existentiell wirkendes Spiel. Die Schauwelt der Stille und der Feierlichkeit wird bekräftigt durch den schwarzen Anzug mit Hut oder das lange schwarze Kleid. Indes hat man immer den Eindruck, diese Feierlichkeit sei kurz vor dem Zusammenbrechen. Klauke gemahnt uns mit seinen neuerdings psychologisch aufgeladenen Titeln daran, daß es entschieden um wesentliche Dinge gehe, aber seine Equilibristik und das absurde Eigenleben der Gegenstände insinuieren immer schon die
Groteske des Slapstick. Hier mag Beckett Pate gestanden haben.
Klauke selbst hat davon gesprochen, daß er sich »mehr mit den Verschattungen unseres Daseins und seinen komischen Entrückungen und Verzückungen beschäftige als mit den Lichtquellen«, seine Themen seien die »groteske Unzulänglichkeit des Daseins«(11) und das »›schöne Scheitern‹, das unsere Existenz, wenn man nicht verrückt wird, recht unterhaltsam macht«.(12) Beide stecken in diesen Arbeiten gleichermaßen: die Vanitas und der Clown.
Desaströses Ich (Trost für Arschlöcher): In den Werken der letzten Jahre, ebenfalls großformatig, jetzt aber oft in ein Rötel getaucht, das an getrocknetes Blut erinnert, vollzieht sich noch einmal ein ganz entscheidender Wandel. In hohen Regalen liegen, wie ausgelagert und abgelegt, neben- und übereinander nackte Leiber. Das Geschlecht ist sekundär, was zählt, ist das trostlose Ausgeliefertsein, ist die Verwandlung des Körpers in einen Klumpen Fleisch, der weiterer Verwertung harrt. Mit der Entindividualisierung der Leiber geht eine Ästhetisierung einher, die Erstarrung, Kälte, Ende anzeigt.
Am Anfang stand die experimentelle, oft groteske Inszenierung der eigenen Figur wegen der Frage der Identität; die aggressive Lust barg Veränderungspotential. Dann die essayistische Erkundung der Verhältnisse zwischen Figur und Objekten, resignativ, doch nicht ohne Komik. Und jetzt ist nicht mehr, wie in den frühen 70ern, von der Identität und der Existenz, nicht mehr vom
Körper, vom Geschlecht und von der Moral die Rede, sondern nur noch hoffnungslos von Restbeständen und Körperteilen.
Es scheint, als ob Klauke mit diesen Stationen seines Werks die Veränderungen des Körperbewußtseins in den letzten 30 Jahren beschreibt. Man denke an eine ähnliche Entwicklung bei Cindy Sherman, man denke bei den 70er Jahren an Hannah Wilke und Valie Export und zum Vergleich an Jüngere wie Robert Gober, Marc Quinn oder Mona Hatoum, die nur noch Fragmente des
Körpers in Zeiten seiner äußersten Gefährdung skeptisch fragend aufzugreifen vermögen.
Tatsache ist, daß Jürgen Klauke nicht nur zu denen gehört, die der Fotografie zur Eigenständigkeit in der bildenden Kunst verholfen haben, er ist zugleich derjenige, der in seinem Werk zuerst und am radikalsten die allgemein erst in der Kunst der 90er Jahre aufgekommende Frage nach dem Geschlecht, dem Körper, der Identität gestellt hat. Er ist es auch, der seine Person und seinen Körper besonders nachhaltig zu einer übers Eigene hinausgehenden Kunstfigur gemacht hat. Und er hat mit nicht nachlassender, eher sich steigernder Intensität und Konsequenz dem Medium Fotografie auch durch die zunehmende Ökonomie der künstlerischen Mittel große Bilder abgewonnen, in denen er Schritt für Schritt von den persönlichen zu allgemeinen existentiellen
Fragen gekommen ist.


Anmerkungen

  1. (photo) (photo)2...(photo). Sequenced Photographs, University of Maryland Art Gallery 1975 (David Bourdon);
    Foto-Sequenties, Stedelijk Museum Amsterdam 1976 (Els Le Fever-Barents);
    Sequenzen. Fotofolgen zeitgenössischer Künstler, Kunstverein in Hamburg 1977 (Uwe M. Schneede);
    Fotosequenzen – Filme und Videotapes, Hessisches Landesmuseum Darmstadt 1977;
    Absage an das Einzelbild. Erfahrungen mit Bildfolgen in der Fotografie der 70er Jahre,
    Fotografische Sammlung Museum Folkwang Essen 1980 (Ute Eskildsen und Manfred Schmalriede)
  2. Jürgen Klauke im Interview mit Peter Weibel. In: Jürgen Klauke. Cindy Sherman, Sammlung Goetz. Ostfildern 1984, S. 29
  3. REDEN ÜBER KUNST, 20. Oktober 1999 in der Hamburger Kunsthalle
  4. Jürgen Klauke im Gespräch mit Hans-Michael Herzog und Gerhard Johann Lischka, hrsg. v. Gisela Neven DuMont u. Wilfried Dickhoff. Köln 1997, S. 77
  5. Peter Gorsen: Pierre Molinier Lui-même. Essay über den surrealistischen Hermaphroditen. München 1972
  6. Wie Anm. 4, S. 20
  7. Wie Anm. 3
  8. Stephan von Wiese, zit. nach Jürgen Klauke. Formalisierung der Langeweile. Köln 1981, S. 12
  9. Peter Weibel in: Jürgen Klauke. »Prosecuritas«, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld 1994, S. 103
  10. Wie Anm. 4, S. 44
  11. Ebenda, S. 50 bzw. 93
  12. Wie Anm. 2, S. 30