Peter Weibel

Klaukes Kunst zwischen subversiver Körperpolitik und performativen Akten



Jürgen Klauke - Absolute Windstille
Kunst- und Austellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001




0 (Von der Krise der Repräsentation zur Krise des Körpers)

Die Krise der Repräsentation, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das abstrakte Tafelbild hervorgebracht hat, hat nach 1945 die Krise des abstrakten Tafelbildes selbst produziert. Clement Greenberg schreibt in »The Crisis of the Easel Picture« (1948): »... here in America it is practised by artists so various in their provenance and capacities as Mark Tobey, Jackson Pollock, the late Arnold Friedman, Rudolf Ray, Ralph Rosenberg, Janet Sobel. [...] What, at least, it does mean for the discipline of painting is that the future of the easel picture as the vehicle of ambitious art has become very problematical; for in using the easel picture as they do – and
cannot help doing – these artists are destroying it.«(1) Als möglicher Ausweg aus dieser Krise erschienen in Europa und Amerika die Expansion bzw. Radikalisierung des Action Painting zur Aktion, welche sich in mehreren Schritten ereignete: Aktionen auf der Leinwand, Aktionen vor der Leinwand und Aktionen ohne Leinwand, die fotografisch oder filmisch dokumentiert wurden. Aktionsmalerei, Happening, Fluxus, Multimedia, Intermedia, Performance, Body Art und Aktionstheater bilden jene kunstgeschichtlichen Begriffe, welche diese Expansion bezeichnen.(2)
Die Definition der Kunst als Tafelbild war als zu eng empfunden worden. So ging die Malerei selbst über das Tafelbild und die herkömmlichen künstlerischen Materialien hinaus. Maler wie Pollock, Matthieu und Klein verwandelten den Malakt in Schau-Malerei, zu Schau-Geschehen in einem Raum vor Publikum. Ausgehend von dieser Erweiterung verlor die Bildfläche immer mehr ihre Funktion als alleiniger Ausdrucksträger. Die Erweiterung der Bildfläche implizierte eine Erweiterung des Ausdrucksmediums und
-materials. Es wurden nicht nur reale Dinge auf die Bildfläche appliziert wie im Nouveau Réalisme und in der Pop Art, sondern die wesentlichste Erweiterung der Malerei führte zur Einbeziehung des Körpers als neues Ausdrucksmedium. Der Körper wurde zum Bild, zum Ort der Repräsentation(skrise). Der menschliche Körper konnte die Stelle des Pinsels (Yves Klein) oder der Leinwand (Günter Brus) einnehmen. Bei der Expansion des künstlerischen Mediums um den Körper wurden nicht nur der Kunstbegriff und der Wirklichkeitsbegriff erweitert, sondern die Sprengung des Tafelbildes als Kunstrahmen und der Ausstieg aus dem Bild führten zu vielfältigen Explorationen traditioneller sozialer Codes. Die Ausrahmung des Bildes als Kunstgrenze hat auch andere Grenzen durchbrochen. Die Erweiterung des kunstfähigen Materials um den Körper hat die sozialen Strategien und Wirkungen der Kunst erweitert. Dabei gab es zwei Möglichkeiten: die Verwendung des eigenen Körpers, des Körpers des Künstlers, und die Verwendung eines fremden Körpers. Der Körper des Künstlers war der Performer. Durch die Inklusion des menschlichen Körpers in das Tafelbild als Reaktion auf seine Krise entstanden Aktionskunst, Body Art und Performance Art. Zahlreiche KünstlerInnen wie Abramovic, Acconci, Barney, Brisley, Burden, Chadwick, Finley, Fox, Gilbert & George, Manzoni, Mendieta, Moorman, Morimura, Morris, Nauman, Ono, Orlan, Pane, Ray, Rinke, Rosenbach, Schneemann, Sprinkle, Stelarc, Stembera, Wilke und Woodman haben mit ihrem eigenen Körper, dem Körper des Künstlers als künstlerisches Medium gearbeitet.(3) Jürgen Klauke zählt seit 1970, wie Cindy Sherman seit 1975, zu jenen KünstlerInnen, welche bei dieser Transformation der Repräsentationskrise zur Körperkrise und zur Gender-Krise eine entscheidende Rolle spielten, indem sie den Körper von seiner Rolle als bloßes Material (z.B. der Malerei) oder als Substitut für Skulptur erlösten und ihn zu einem Agenten für tiefliegende Fragen der Identitätspolitik ausdifferenzierten. In zahlreichen performativen Akten zur Produktion von fotografischen Sequenzen hat er so konsequent wie kaum jemand anderer die auf einer Körperpolitik beruhende Identitätspolitik diffamiert und wegweisend für das Subjektideal der Postmoderne ›gender games‹ und Identitäts-Spiele entworfen.



I. (Transformer oder die Anatomie ist nicht unser Schicksal)

Aristoteles definierte bekanntlich die sexuelle Opposition von Mann und Frau, indem er erklärte, ein männliches Tier sei eines, das in einem anderen Wesen Leben erzeuge, während das weibliche Tier Leben in sich selbst erzeuge.(4) Im 19. Jahrhundert verfestigte sich diese biologische Erklärung zu einer sozialen Konstruktion in Form einer Trennung zwischen dem Mann als produktivem Körper und der Frau als reproduktivem Körper. Als Folge der industriellen Revolution setzte sich das Primat der Produktion durch, die den produktiven Männern oblag. Die Technik war Domäne des Mannes, und sie produzierte Maschinen, welche wiederum Waren produzierten. Die Frauen waren reproduktive Maschinen, welche für die biologische Reproduktion des Lebens zuständig waren, wie schon Aristoteles schrieb. Damit wurde die Frau als bloß reproduktiver Körper von der Konstruktion der modernen Gesellschaft ausgeschlossen, die ja nur durch Produktionsmaschinen und -körper geschaffen werden konnte.(5) Die Wissenschaft der reproduktiven Biologie entstand als Gegenstück zum Produktionsdruck der maschinellen industriellen Revolution.
Wir erkennen, wie die Ontologie der Geschlechter in der Form einer Ontologie der Reproduktion fundiert wurde, wenn wir beispielsweise das Werk von William Harvey betrachten, dem wir die Entdeckung der Zirkulation des Blutes verdanken (On the Motion of the Heart and Blood in Animals, 1639) sowie die Idee, daß das Leben einem Ei bzw. einem Sperma im Bauch entspringt (Disputations Touching the Generation of Animals, 1651). Sexuelle Anatomie und Reproduktion bestimmten die Geschlechterdifferenz. Zwischen Sex und Geschlecht wurde kein Unterschied gemacht, sondern das Geschlecht wurde in den Körper hinein und aus ihm herausgelesen. Harvey ist ein Hinweis darauf, wie im 18. Jahrhundert endgültig erfunden wurde, was wir heute unter Sex verstehen. Georg Ludwig Kobelts Veröffentlichung Die männlichen und weiblichen Wollusts-Organe des Menschen und verschiedener Säugetiere von 1844, in der er Anatomie und Physiologie des sexuellen Vergnügens bis in klinische Details beschreibt, ist ein später Höhepunkt dieses Willens zur biologischen Definition. Die Geschlechter wurden also biologisch definiert und zwar durch ihre sexuellen Organe, den Penis bzw. die Vagina. So wurde Geschlecht mit Sex identifiziert, die Geschlechteridentität zu einer sexuellen Identität, statt sie zu differenzieren. Die Biologie definierte die Geschlechter. Die Biologie der Geschlechterunterschiede wurde fortschreitend zu einer Sprache der Geschlechteropposition verabsolutiert. Unterschiede reichten nicht, es wurden Gegensätze konstruiert: »the opposite sex« oder »das andere Geschlecht«, wie Simone de Beauvoir in ihrem berühmten Werk
Le deuxième sexe 1949 schrieb.(6)
Der natürliche Körper wurde zum Goldstandard des sozialen Geschlechterdiskurses. Insbesondere die reproduktiven Organe erhielten eine mythische Macht und Bedeutung. Die Wissenschaft von der sexuellen Reproduktion und der reproduktiven Biologie legte die Grundlagen für eine Politik der Geschlechter und eine Politik der Identität, die auf körperlichen bzw. biologischen Unterschieden gründet. Aus den Körpern sprach die Stimme der Natur selbst. Die Geschlechtsidentität war ein Produkt der Natur. Die molekulare Biologie und die DNA-Revolution der Gegenwart laufen Gefahr, als Fortsetzung dieser biologischen Fundierung der Geschlechter mißinterpretiert zu werden, während sie in Wahrheit die Möglichkeit zur Einsicht in die soziale und kulturelle Konstruktion der Geschlechterdifferenz bieten. Bei fortschreitender wissenschaftlicher Erforschung des biologischen Sexus von der Anatomie zu den Zellen wird erkennbar, daß das soziale Geschlecht in biologischen Sex projiziert wird. Die Natur des Geschlechts ist nicht ausschließlich ein Resultat der Biologie, sondern unserer sozialen Repräsentation und Konstruktion. Es waren nämlich
linguistische Operationen, welche die Ontologie der Geschlechter etablierten. Organe, die bis ins 18. Jahrhundert keine eigenen Namen hatten, z.B. der vergessene Vokal im Alphabet der Kultur, die Vagina, erhielten einen Namen. Organe, die einen gemeinsamen Namen hatten, wurden nun linguistisch getrennt, z.B. in Ovarien und Testikel. Strukturen, die für Mann und Frau bisher gemeinsam galten, wie eben das Skelett, wurden ebenfalls in weiblich und männlich getrennt.
Die Ausarbeitung einer physischen Anthropologie der sexuellen Differenz war und ist die konservative Antwort auf die Theorien der Französischen Revolution. Das Postulat eines abstrakten Körpers, sexuell undifferenziert bzw. »sexed but without gender«,(7) als Ort eines rationalen Subjekts, das die Person konstituiert, war die progressive Antwort der Aufklärung. Das neue Subjekt für eine zivile Gesellschaft sollte sozial geschlechtslos sein, lief aber Gefahr, erst recht die Frau von der Konstruktion der modernen Welt auszuschließen, indem es ein Geschlecht, das weibliche, unterschlug.
Dieses Feld der sexuellen Inkommensurabilität ist das Arbeitsfeld von Jürgen Klauke. Die Nicht-Vermeßbarkeit, die Nicht-
Vergleichbarkeit der Geschlechter ist seine radikale utopische Antwort auf die vermeintliche Ontologie der Geschlechter einer reaktionären Philosophie. Er ist einer der wenigen Künstler, der die politischen Impulse und Postulate der Französischen Revolution bezüglich Subjekt, Identität, Geschlecht und Körper verstanden und weiterverarbeitet hat. Besonders in seiner frühen Phase der Transformer-Sequenzen führt er uns in subversiven performativen Akten ständig vor, daß die Anatomie nicht unser Schicksal ist und »die Gene nicht der Ort unserer Identität sind.« »Der ›objektiv subjektive‹ Kern unserer bewußten Erfahrung«(8) und geschlechtlichen Selbstwahrnehmung entsteht, wie Klaukes Kunst exemplarisch vorführt, unter den Bedingungen der sozialen Konstruktion der sexuellen Differenz. Gerade um diesen Aspekt, die Konstruktion der sexuellen Differenz, konzentriert sich das Werk von Jürgen Klauke in den 70er und 80er Jahren. Sein Theater der anatomischen Organe, das von ihm überaus provokativ
inszenierte ›Grand Guignol‹ der Geschlechter, demonstriert eine Matrix von interpretativen Strategien, mit denen eine biologisch fundierte Repräsentation von Mann und Frau als Opponenten unterlaufen werden kann. Kritisch analysiert er die Natur der sexuellen Differenz, wie sie im Medium des Körpers definiert wird, bis hin zu jenem Punkt, an dem die Beziehung zwischen Körper und geschlechtlicher Identität überhaupt in Frage gestellt wird. Anatomische Merkmale von Mann und Frau, gemäß der biologischen Definition der Geschlechter primäre Sexualorgane, werden von Klauke in großen Zyklen von Performances und inszenierten Fotografien zu Elementen einer Kostümierung und Maskerade, zu einer Sprache, welche diese anatomischen Merkmale desavouiert. Während im normalen sozialen Leben noch immer die Feststellung darüber, ob der Körper einen Penis hat oder nicht, ob er Brüste hat oder nicht, über das soziale Schicksal des Individuums entscheidet und darüber, ob es als Mann oder als Frau sortiert wird, zeigt Klauke, daß die Opposition der Geschlechter nur ein Schauspiel auf der sozialen Bühne ist, ein Schauspiel von Zeichen auf einer theatralischen Bühne (Self Performance, Transformer, beide 1972–73). Andy Warhols Factory war die soziale Bühne für ein vergleichbares Schauspiel einer transsexuellen Szene, welche die Dekoration des Sexus inkommensurabel vermischte. Die anatomischen Merkmale der Geschlechter werden zu Dekorationen im Theater der Geschlechterdifferenz abgewertet, indem mit ihnen gespielt wird wie mit einem Baukasten. Die anatomischen Distinktionsmerkmale der Geschlechter werden zu Grimassen und Fratzen, welche die Verzerrungen enthüllen, die der Konstruktion der Geschlechterdifferenz unterliegen. Klauke zeigt die Sprache der Geschlechter nicht als eine natürliche Sprache des Fleisches, sondern enthüllt gerade durch die groteske Übertreibung der anatomischen und fleischlichen Aspekte der Geschlechter und der sexuellen Leiber, in welch geringem Maße die Sprache der Anatomie und des Fleisches verläßlich Auskunft über die sexuelle Identität geben kann und in welch geringem Maße diese Aspekte legitimiert sind, die Identität des Subjekts zu definieren. Insofern trifft die Definition Jean-François Lyotards, was ein »komplexer Transformer« sei auf niemanden optimaler zu als auf Jürgen Klauke. Lyotard unterschied 1976 auf einem Kolloquium »On the Performance« in Wisconsin zwischen Travestien, die Rollencodes voraussetzen, und Travestien, die Rollencodes durch »Transformationsdispositive« wie Übersteigerung und Verfielfältigung destruieren oder transformieren: »Der ›performer‹ [...] ist ein komplexer ›transformer‹, eine ganze Batterie von Verwandlungsmaschinen«.(9)
Der ›Transformer‹ Jürgen Klauke verwandelt in seinem Theater der Organe die festgelegten Rollencodes, indem er die Skalierung der Organe übertreibt, sie vervielfältigt oder ihre natürliche Anordnung transformiert. Bei Klauke wird der Körper zum Dispositiv, zu einem Medium, das für Transformationen zur Verfügung steht. Diese Transformationen ergreifen nicht nur die sozialen Codes der Geschlechter, sondern, und das macht seine Kunst so substantiell, die Transformationen greifen auch durch auf die Körperorgane, welche in einer biologisch fundierten Theorie der Geschlechter die Rollencodes normativ festlegen. Durch diese komplexe Arbeit als Transformer, mit der er wegweisend für nachfolgende Künstlergenerationen gewirkt hat, erzeugte er eine sexuelle Ambivalenz und Polyvalenz, die den durchgehenden Topos seiner Arbeit mit dem Körper darstellt. Seine fotografischen Zyklen verweisen auf Geschlecht und Sex nicht als Sein, Substanz, Ontologie, sondern als Performativität, als Sozietät, als Akt einer Hervorbringung. Sie zeigen die Beziehung zwischen Subjekt, Geschlecht, Sex, Körper und Identität als offene Gleichung. 1974 wurden in der Ausstellung Transformer: Aspekte der Travestie Bilder von Jürgen Klauke, Urs Lüthi und Katharina Sieverding neben die Bilder ähnlich androgyner Musiker wie David Bowie, Brian Eno und Lou Reed gehängt. Klauke schuf eine Atmosphäre veränderter Spielregeln der Identität, wie sie auch in der Ästhetik der Musikwelt der 60er und frühen 70er Jahre zu finden war. Seine fotografischen »Transformer«-Aktionen überschritten die Regeln der Rollencodes radikaler als die massenkulturellen Ikonen und führten dieses Rollenspiel konsequent bis an die Grenzen der Kommensurabilität und des Konsumierbaren.



II. (Antlitze oder Identitätsspiele und Gender Games)

Eine der größten künstlerischen Leistungen Klaukes kann darin gesehen werden, daß er einer der ersten war, der die Krise der Repräsentation aus dem Objektbereich, wie sie von Duchamp über Magritte bis Jasper Johnes vorgeführt worden war, in den Bereich des Körpers übertragen hat. Die abstrakte Kunst reagierte auf die von den Maschinen der industriellen Revolution ausgelöste Krise der Repräsentation, indem sie die Referenz auf die Gegenstandswelt unterband, das Band zwischen Zeichen und Objekt gleichsam zerschnitt. Dies geschah allerdings um den Preis, daß in der autonomen Zeichenwelt bzw. Eigenwelt des Materials keine Aussagen mehr über die Welt gemacht werden konnten, also der Erkenntniswert der Kunst zu einem Nullpunkt tendierte, »au zero degré«.(10)
Klauke dagegen gehört zu jener Generation von KünstlerInnen, welche die Krise der Repräsentation tiefer ansiedelten, nämlich auf der Stufe der Frage nach dem Subjekt. Die Koordination zwischen Objekt und Bedeutung hat er auf die Zuordnung von Subjekt und Zeichen verschoben und damit die Krise des Bildes und die Krise der Repräsentation auf den Körper übertragen.
Dieses Thema, die Krise des Bildes und die Krise der Repräsentation in bezug auf den Körper, hat Klauke in den frühen 70er Jahren mit einer derartigen Wucht als Thema etabliert, daß das Echo dieser frühen Arbeiten noch im Werk von Mathew Barney wahrzunehmen ist. Vielleicht am deutlichsten von allen seinen Zeitgenossen hat Klauke die Krise des Körpers als Krise der Repräsentation erkannt. Noch konsequenter als Katharina Sieverding, Urs Lüthi, Annette Messager oder Paul McCarthy enthüllt er die sexuelle Differenz als gesetztes Zeichenkonstrukt. Seine Arbeiten zielen auf eine Verwirrung der Geschlechtsmerkmale, welche die klare Opposition der Geschlechter als Fiktion entlarvt, als Konstrukt also, das in seiner Willkürlichkeit und Ambiguität ein Paradigma für die Krise der Repräsentation darstellt.
Es sind jedoch nicht nur sexuelle Typologien, die Klauke denunziert und in denen sich der paradoxe Charakter der sich verschiebenden Persönlichkeiten präsentiert. In seiner Arbeit Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/77) dekonstruiert Klauke durch die Kombination von Selbstportraits und Berufs- bzw. Täterbezeichungen selbstverständliche Verbindungen zwischen Dargestelltem und Sinn, zwischen Subjekt und Darstellung, also zwischen Bezeichnetem und Zeichen. Gerade in dieser Arbeit sieht man beispielhaft Klaukes Methode der Dekonstruktion der Repräsentation. Der mimetische Anspruch der Repräsentation wird durch die sparsame und arbiträre Mimik reduziert. Das Band zwischen Mimesis und Mimik wird zerschnitten. Das menschliche Antlitz wird bei Klauke nicht zu einem Spiegel, sondern höchstens zu einem blinden Spiegel, zu einer Maske. Es sagt über die sogenannten inneren Werte, den Charakter, die Subjektstruktur nichts aus. Inneres Milieu, so der Titel einer fünfteiligen Fotoarbeit von 1990/92, ist leer, dunkel oder multipel, wie die Fotos zeigen. Subjekt und Antlitz haben eine arbiträre Beziehung. Das Antlitz ist keine Antwort und kein Garant für die Menschlichkeit. Antlitze übernehmen keine Verantwortung, sondern sind Masken. In der 96teiligen Serie Vermummter Antlitze, Fotos von Vermummten, die Klauke seit dem Terroranschlag bei der Olympiade in München 1972 sammelt und 1999/2000 erstmals als großformatige Serie ausstellt, kann man ein frühes Hauptwerk Klaukes erkennen. Die Anonymität der Antlitze verweist auf die Arbitrarität der Gleichungen von Sex und Subjekt, von Geschlecht und Körper, von Anatomie und Schicksal. Die Vermummungen löschen Identitäts- und Geschlechtsaussagen. Gleichzeitig werden Bilder von maskierten Menschen zu anonymen Ikonen der Medienwelt, die eigentlich signifikanten Antlitze einer anonymen Welt. Die Vermummten sind vielleicht die eigentlichen Gesichter der modernen Welt. Mimik als Maske, Antlitze ohne Gesicht, Subjekte ohne Identität stellen die Euphorie in Frage, mit der bisher die Autonomie des Subjekts behauptet wurde und behaupten im Gegenteil den Urgrund der Autonomie als mystisch, als unbegründbar. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, Klauke behaupte die Unbegründbarkeit von Identität und proklamiert sie daher als Spiel, fordert die Freiheit als Spiel ein. Das Motiv der Maske, die Darstellung der Geschlechtlichkeit als Maskierung, welche Klaukes Werk vor allem in den 70er und 80er Jahre vielfältig durchzieht, weit bevor die Geschlechterdebatte ihren diskursiven Höhepunkt in den 90er Jahren erreichte, beruft sich gerade auf die Erkenntnis, daß die Beziehung zwischen Körper und Geschlecht eine Zwangsordnung ist.(11) Durch sozial und sprachlich festgelegte Regeln werden Normen erlernt, die die Beziehung zwischen Körper und Geschlecht codieren. Wie die Lautstruktur eines Wortes ursprünglich in keiner Weise irgendeine Ähnlichkeit mit dem designierten Objekt und mit der Bedeutung des Zeichens hat, so hat auch der Körper ursprünglich keine Verbindung mit dem Wert und der Bedeutung des Geschlechts. Die Zwangsordnung, welche die Geschlechterrollen festschrieb, indem sie sich auf den Körper als Ursprung zentrierte, dient nicht nur einer Diktatur der Heterosexualität und einer binären Matrix der Geschlechteropposition, die nicht nur alle anderen Geschlechterrollen der Homosexualität, Bisexualität und Transsexualität marginalisiert und verwirft, sondern dient vor allem der Domination des männlichen Geschlechts. Klaukes Kunst ist eine Folge von Zeugnissen der Insurrektion, des Aufstandes gegen diese Zwangsordnung. Klauke verwirrt die Codes, die durch gesellschaftliche Zwänge produziert, distribuiert und erlernt werden und die bestimmte Geschlechtsvorstellungen mit bestimmten Formen des Körpers assoziieren. Das Geschlecht ist also eine soziale Konvention, vergleichbar dem konventionellen Charakter der Sprache. Dieser Vergleich zwischen Sprache und Körper stellt den Beginn einer linguistischen Theorie des Subjekts dar.
In der Übertragung des semiotischen Modells der Beziehung von Zeichen und Objekt auf die Beziehung von Geschlecht und Körper zeigt Klauke, daß die Zuordnung von Geschlecht und Körper durch sozial festgelegte Regeln wie eine Gewohnheit erlernt wird, welche die Beziehung zwischen Körper und Geschlecht codiert. Er kündigt den sozialen Vertrag des Codes auf, wendet sich gegen den Zwang, gegen die Gewohnheit sowie gegen die soziale Konvention der geschlechtlichen Bindung an den Körper und tritt ein für das freie Spiel der Arbitrarität. Wie tief eine Gesellschaft durch die Zuwiderhandlung gegen die Normen der Geschlechterdifferenz getroffen wird, zeigt das Schicksal Claude Cahuns und das skandalöse Verschwinden und Verdrängen ihres Werkes durch die Kunstgeschichte.(12) Wie Cahun in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts attackiert Klauke ein zentrales Element der gesellschaftlichen Systemstabilisierung, das Gegensatzpaar weiblich/männlich. Das positionale Subjekt der Postmoderne, das im Verlauf seines Lebens sich jene Optionen der Identität aneignet, welche die Gesellschaft ihm offeriert, ist ein multiples Subjekt. Sein Status ist daher rein optional. Klauke leiht seine Person und seinen Körper dieser Multiplikation von Selbst, Identität und Geschlecht. Klaukes Physiognomien (1972-73) haben bereits Anfang der 70er Jahre ein inszeniertes Selbst vorgeführt, wie es in den 80er Jahren als postmoderne multiple Identität am Beispiel der fotografischen Rollenspiele von Cindy Sherman diskutiert wurde. Cindy Shermans Film Stills von 1975-1980 wie auch ihre History Portraits von 1988–1990 zählen zu den bekanntesten und meist zitierten Beispielen einer postmodernen multiplen Identität. Zahlreiche Arbeiten(13) haben an Shermans fotografischen Selbstinszenierungen in den unterschiedlichsten weiblichen Rollen versucht, eine Kritik an der Rolle der Frau herauszuarbeiten, wie sie von den Medien als »stereotyp« vorgegeben und vorgeformt wird. »Stereotyp« gilt nun in der theoretischen Diskussion als Maskerade, da die patriarchalische Gesellschaft der Frau nichts anderes läßt als die Maskerade, als das Image. Da die Frau nur als Darstellung, als Bild in der patriarchalen Kultur existiert, bedeute die Darstellung der Darstellung, das personale, nachinszenierte, appropriierte Abbild der massenmedialen Bilder der Frau bereits eine Kritik der Darstellung und der Rollenbilder. Wie weit Shermans Film Stills sich affirmativ zum multiplen Rollenangebot der Gesellschaft verhalten und wie weit sie wirklich die Bilder der Frau als Scheinbilder (Simulacra) kritisch dekonstruiert, bleibt noch eine offene theoretische Frage, weil ihre Rollenbilder ja nicht die Mechanismen der Geschlechterdifferenz und die heterosexuelle Matrix selbst in Frage stellen, sondern in der Darstellung des Weiblichen verbleiben. Klauke hat dieses postmoderne optionale bzw. multiple Subjekt aber nicht nur als Abbilden von Abbildern, die uns die Gesellschaft und die Massenmedien als Optionen unserer Identität anbieten, in fotografischen Arbeiten visualisiert, sondern die Identitätspolitik prae-medial, bevor sie in den Massenmedien dupliziert und verstärkt wurde, analysiert und inszeniert. Sein mit Hilfe von Make-up, Verkleidung und Accessoires inszeniertes Theater der Subjekte, die Entfaltung der Identität durch Alterität, des Selbst-Seins durch eine Vielzahl von Anders-Sein, korrespondiert mit den avanciertesten psychoanalytischen und kulturkritischen Theorien, die linguistisch basiert sind. Für Klauke gibt es daher zum postmodernen positionalen bzw. optionalen Subjekt keine Alternative. Nur eine Person zu sein, nur eine Identität zu haben, schien »keine Möglichkeit« zu sein, wie eine Aktion aus dem Jahre 1975 hieß, die er mit Ulay in der Galerie De Appel in Amsterdam gemacht hat. Die variablen Positionen des Subjekts im Theater der fiktiven Identitäten bzw. im Drama der multiplen Subjekte kommen auch in der zehnteiligen Fotosequenz Einzelgänger (1975) zum Ausdruck, wo Klauke typischerweise nicht alleine, sondern zu zweit zu sehen ist. Das Subjekt inszeniert sich nicht auf einer Bühne, sondern wird selbst zur Bühne für variable Identitäten und Ich-Positionen in inszenierten fotografischen Sequenzen. Der Sequenzcharakter der Bilder korrespondiert mit dem Sequenzcharakter der Subjekte. Die Variabilität der Posen und Kostüme, die Parodien und Travestien liefern eine Karikatur der visuellen Verkörperung der Geschlechter. Die multiplen Formen und Masken verweisen auf eine Identität im Fluß. So eine fluide Identität ist nicht auf der Stabilität eines kontinuierlichen Körpers aufbaubar, sondern im Gegenteil, sie bricht den Bezug zum Körper und negiert daher jede körperliche Strategie der Repräsentation in bezug auf Identität. Die durch die linguistische Begründung des Subjekts ausgelöste Krise des Körpers ist somit die tiefste Krise der Repräsentation. Sie betrifft als Konsequenz auch die Repräsentation der Geschlechter. Die Geschlechterkrise bzw. die Krise der Geschlechtsidentität, wie sie Klaukes Werk vorweist, ist eine fundamentale Formulierung der Krise der Repräsentation, die seine Kunst mit einem wesentlichen Beitrag tief in der Geschichte der Moderne verankert.



III. (Self Performance oder das Geschlecht als Würfelspiel)

Die Grundstruktur in der Herausbildung der sexuellen Differenz läßt sich deutlich an einem linguistischen Modell aufzeigen, wie es Roman Jakobson mit seiner »Theorie der binären Opposition« entwickelte: Ein Zeichen erwirbt seine Bedeutung im wesentlichen aus der Differenz zu anderen Zeichen des gleichen Systems. So schreibt Roman Jakobson, in der Nachfolge von James Sanders Pierce und Ferdinand de Saussure, in Die Lautgestalt der Sprache(14), daß der »Begriff der Opposition« sowohl dem phonologischen als auch dem grammatischen System der Sprache zugrunde liegt. Mit der Vorstellung der binären Opposition entwickelt er eine Einsicht Saussures weiter:
»In der Sprache wird, wie in jedem semiologischen System, ein Zeichen nur durch das gebildet, was es Unterscheidendes an sich hat. Bei den sprachlichen Zeichen, die aus Bezeichnetem und Bezeichnendem bestehen, kommt es auf ihre gegenseitige Sonderung und Abgrenzung an. Nicht daß eines anders ist als das andere, ist wesentlich, sondern, daß es neben allen andern und ihnen gegenüber steht. Und der ganze Mechanismus der Sprache beruht auf Gegenüberstellungen dieser Art.«(15)
Ist der Körper ein sprachliches Zeichen, kommt es auch bei ihm wie bei allen sprachlichen Zeichen auf die gegenseitige Sonderung und Abgrenzung an. Nicht daß ein Körper anders ist als der andere ist wesentlich, sondern daß er neben allen anderen und ihnen gegenüber steht. Der Körper, dessen Beziehung zum Geschlecht bisher durch Arbitrarität gezeichnet war, wird zum Operationsfeld eines oppositiven Binarismus, nämlich weiblich/männlich. Diese Differenzierung ist nur möglich innerhalb des Gefängnisses, das von distinktiven Merkmalen gebaut wird, die nur zwei Werte haben können. Der Signifikant (der Körper) des Signifikats (Subjekt) bewegt sich innerhalb des aus distinktiven Oppositionen gebauten Würfels. Um das Subjekt und seine geschlechtliche Identität zu befreien und variabel positionieren zu können, muß es von der binären anatomischen Diktatur des Körpers befreit
werden. Jürgen Klauke versucht, aus diesem Raum binärer Oppositionen auszubrechen, das Subjekt aus dem Körper, d.h. aus dem Gefängnis der distinktiven Opposition männlich/weiblich zu befreien. Das Geschlecht wird bei Klauke zu einem Würfelwurf. Über das Sexuelle, die sexuelle Differenz hinaus entwirft Klauke den utopischen Horizont eines Anderen, das »neben allen anderen und ihnen gegenüber steht«. Er versucht, Rimbauds bekannte Formel »Ich ist ein Anderer« einzulösen. Er bedient sich dabei eines
Verfahrens, das Roman Jakobson als Shifter-Theorie in den linguistischen Diskurs eingeführt hat.(16)
»Das Wort ›ich‹ nennt von Fall zu Fall eine andere Person und es tut dies mittels immer neuer Bedeutung«, schrieb schon Edmund Husserl in seinen Logischen Untersuchungen.(17) Die Besonderheit des Personalpronomens besteht darin, daß es keine bestimmte konstante allgemeine Bedeutung hat. Jakobson hat diese besondere Klasse von grammatikalischen Einheiten, die indexikalischen Symbole, mit Otto Jespersen »shifters« (Verschieber) genannt.(18) Verschieber vereinigen die Funktionen der Symbole, deren Beziehung zu ihrem Objekt auf einer konventionellen Regel beruht, und die Funktionen der Anzeichen, wo der dargestellte Gegenstand und das Zeichen in existentieller bzw. physischer Beziehung zueinander stehen. Die allgemeine Bedeutung eines Verschiebers kann also nicht ohne einen Bezug auf die Mitteilung bestimmt werden. »lch« ist einerseits ein Symbol, das auch »I«, »Ego«, »Je« etc. lauten kann. Auf der anderen Seite ist das Zeichen »lch« ein Index, weil es mit dem Sprecher, der dieses Wort äußert und das den Sprechenden bezeichnet, in einer existentiellen Beziehung steht. Jede Person ist immer auch »Ich«, d.h. das Subjekt, sowie »Du« und »Er/Sie«, d.h. der/die andere. Das Spiel der Shifter und Namen dehnt Klauke aus auf ein Spiel von Masken, Kleidern und Körperorganen. Das Subjekt als Shifter ist immer Ich und auch der/das Andere.
Jürgen Klauke verweigert sich mit seinen Selbstinszenierungen den elementaren ldentifizierungen, welche die Gesellschaft von Kindheit an dem Subjekt auferlegt. Sein Körper wird mit Hilfe von Masken, Make-up, Kleidern und Requisiten zu einer Szene
von imaginierten Anderen, von anderen Personalpronomen, von anderen Personen, von anderen Ichs, von Verschiebungen des Subjekts. Innerhalb der konventionellen Regel der Dyade männlich-weiblich ist Klauke gleichzeitig das sprechende Subjekt, das dargestellte Subjekt und das angesprochene Subjekt, ein Symbol und ein Index. Er definiert also das Subjekt als Shifter, als Verschieber. Wie Pierre Molinier, der seinen Körper transformiert, indem er künstliche Brüste anlegt, weibliche Unterwäsche trägt, seinen Penis versteckt, ihn an anderer Stelle, seiner Ferse, montiert (The Spur of Love, 1966–68), unterbricht Klauke mit Hilfe der Maskerade das System der binären Opposition, auf die die Geschlechter festgelegt wurden.
Make-up, Requisiten und Kostüme, die Mittel der Maskerade also, sind die Mittel dieser sich ständig verändernden und verschiebenden Bewegung des Selbst. Joan Riviere führte den Begriff der Weiblichkeit als Maskerade mit dem 1929 veröffentlichten Aufsatz »Womanliness as a Masquerade«(19) ein. Anstelle von Weiblichkeit als biologische Essenz, Wesen etc. stellt sie die naturalisierten Typologien der Attribute der Geschlechtsidentität in Frage, indem sie im Rahmen einer Theorie der Konfliktlösung zu einer psychoanalytischen Darstellung aufruft. Der Erwerb von geschlechtsspezifischen Attributen und die Realisierung einer hetero- oder homosexuellen Orientierung gehe aus Konfliktlösungen hervor, die auf die Unterdrückung der Angst abzielen. Sie verweist dabei auf eine Parallele bei Ferenczi, der darauf hinwies, »daß die homosexuellen Männer ihre Heterosexualität als Abwehr gegen ihre Homosexualität übertreiben und daß Frauen, die sich die Männlichkeit wünschen, möglicherweise eine Maske der Weiblichkeit aufsetzen, um die Angst und die Vergeltung der Männer abzuwenden«(20). Die Maskerade ist der Sexualität zentral. »Der Leser mag sich fragen, wie ich die Weiblichkeit definiere oder wo ich die Trennungslinie zwischen echter Weiblichkeit und ›Maskerade‹ ziehe. Doch meine These ist nicht, daß es solch eine Differenz überhaupt gibt; ob radikal oder oberflächlich, sind beide vielmehr dasselbe.«(21)
Rivieres Aufsatz nimmt Lacans Analyse der Maskerade als Komödie der heterosexuellen Positionen vorweg, die er in seinem frühen Aufsatz »Die Bedeutung des Phallus. Zu den Beziehungen zwischen den Geschlechtern«(22) entwickelte. Die Geschlechterontologie läßt sich also auf das Spiel der Erscheinungen reduzieren. Die Maskerade kann als performative Hervorbringung einer sexuellen Ontologie verstanden werden, d.h. als reine Erscheinung, als Scheinbild, so perfekt, daß sie sich als Sein darstellt.
Gerade das ist das Grandiose an Klaukes Kunst, an seiner gargantuesken Komödie der Heterosexualität, an seinen endlosen Variationen von inszenierten Identitäten, in denen die Maskerade eine so große Rolle spielt, daß er mit ihnen die performative Erzeugung einer sexuellen Ontologie enthüllen kann. Der Titel seiner Arbeit Self Performance (1972–73) ist wörtlich zu nehmen. Das Selbst ist nur die Performance auf einer Bühne. Das Selbst ist das Ergebnis eines performativen Aktes, der jeweils auch ein anderes Selbst hervorbringen kann. Mit minimalen Inszenierungen, welche der Logik der Kombinatorik folgen, macht er ahnbar und sichtbar, welche Konflikte der Performativität des Subjekts begleiten. Diese Konflikte beziehen auch den Raum und die Zeit ein, somit auch die Objektwelt. Klauke überträgt die Methode der Markierung als Konfliktlösung auch auf die Objektwelt, auf die Matrix von Raum und Zeit. Multiple Objekte (Stühle, Hüte, Stöcke) korrespondieren daher mit multiplen Subjekten. Es gibt nur mehrere Stühle wie mehrere Selbsts.
Es gehört zur künstlerischen Größe seines Werkes, daß Klauke die Logik dieser heterosexuellen Maskerade bis in die Tiefe verfolgt hat. Lacan hat nämlich gezeigt, daß die Maske die Möglichkeiten der Identifikation naturgemäß erschwert, da »die Funktion der Maske jene Identifikationen beherrscht, in denen die Verweigerungen des Anspruchs sich auflösen.«(23) Die Maske ist ein doppelter Verlust, eine doppelte Negation der Identität. Die Maske gehört daher zur Strategie der Melancholie, da sie die Attribute des verlorenen anderen übernimmt. Die Maske verschleiert also einen Verlust, den sie dadurch zugleich bewahrt und negiert. Die Maske hat eine doppelte Funktion, wie die Melancholie selbst. Die Melancholie bewahrt und negiert den Schmerz des Verlustes gleichermaßen. Die Maske ist also ein Prozeß der melancholischen Identifizierung mit einem Verlust, dem nicht zu entrinnen ist, da der Verlust des anderen die conditio sine qua non einer Geschlechtsidentität in einer heterosexuellen Matrix der Geschlechterdifferenz ist. Der Prozeß der Geschlechter-Trennung wie -Einverleibung steht also im weiten Horizont der Melancholie.
Klaukes Sequenz Melancholie der Stühle aus dem Zyklus Formalisierung der Langeweile (1980–81) ist ein unübertrefflicher Beitrag zur Komödie der Heterosexualität, die im Grund eine Tragödie ist, inszeniert im Horizont der Objekte. An Unorten zur Unzeit zeigen sich Unpersonen: leere Kleider, verhängte Personen, leere Stühle vor leeren Hintergründen. Diese Komödie erreicht jene äußerste Grenze, wo der Akt der Kopulation selbst ins Komödienhafte projiziert wird, bevor er in die Tragikomik abrutscht. Die
kritische Reflexion über die Geschlechterontologie als parodistische Dekonstruktion – zuerst alleine und individuell in einer Serie von fotografischen Tableaux und später zusammen mit einer Frau, zuerst als Parodie des Phallogozentrismus und schließlich als Tragödie der Zwangsheterosexualität MITF (1974) und Masculin/Feminin (1974) Rein-Raus (1976), Sonntagsneurosen (1990–92) – ist Zeugnis für die Höhe eines Künstlertums, das weit über die Kriterien formaler Schönheit hinausgeht. Klaukes künstlerische Logik beweist sich gerade darin, daß sie den Zirkel des melancholischen Narzißmus um den Zirkel der melancholischen Zweisamkeit erweitert. Gleichzeitig durchbricht Klauke die heterosexuelle Matrix mit einer fröhlichen Anarchie, die jedes Begehren legitimiert und jede mögliche Sexualität wie jede mögliche Identität offenhält. Seinem anatomischem Theater gelingt es, die
kulturelle Produktion der Geschlechtsidentität aufzuzeigen und aufzuführen. Gleichzeitig formuliert er auch die Panik des Phallus, der im Spiegel seiner Fotografien der Arbitrarität seiner Hegemonie der binären distinktiven Merkmale der Geschlechter
(Bedingter Reflex, Dritte Wiener Richtung 1990–92) gewahr wird.
In seinen Konstellationen von Kleidern und Körpern, von Masken und Make-up, von Organen und Objekten, die jeden ursprünglichen geschlechtlichen Zusammenhang verneinen, entflicht Klauke das Subjekt von jeder sozialen Koordination von Körper und Geschlecht. Er entfaltet das Subjekt als Wortspiel innerhalb der distinktiven binären Oppositionen. Bald so, bald anders (alias aliter) erscheinen Körper, Geschlecht und Subjekt. Er behandelt die Geschlechterdifferenz als bloße Redefigur, als Hypostase und verwendet die weiblich/männlich-Merkmale als bloße Zitate. Die Dyade weiblich/männlich wird zu einem Feld von Verschiebungen. Das Subjekt wird zum Shifter, das sich nicht mehr festlegen läßt. Das Subjekt wird zu einer Kategorie der Verschiebung. Es durchläuft verschiedene Positionen innerhalb und außerhalb der Dichotomie weiblich und männlich. Das Subjekt als Verschieber negiert seine ontologische Begründung auf Natur und Körper. Beim Shifter-Subjekt ist nichts natürlich, auch nicht der Körper. Sondern Körper, Geschlecht und Subjekt sind Ergebnisse sozialer Codierungen und Konventionen.
Klauke verläßt das Gefängnis der binären Opposition. Er entwirft das Modell eines Subjekts, das sich selbst konstruiert, jenseits der Merkmalszone der sozialen Konvention, jenseits der Dyade weiblich und männlich, gerade indem es seine sprachliche Konditionierung zugibt. Das Subjekt als Sprachspiel und als generische Verbkategorie, als Verschieber, befreit das Subjekt von der sozial erzwungenen Einheit des Tripels Körper, Geschlecht, Subjekt.
Klauke befreit das Individuum aus der Herrschaft des Signifikats (Saussure) und der Signifikanten (Lacan). Ein bestimmter anatomischer Körper (Signifikant) erzwingt im Alltag eine bestimmte geschlechtliche Definition (Signifikat). Dieser Januskopf definiert als Ganzes das Subjekt (Zeichen). Klauke zeigt uns ein Jenseits dieses Terrors. Seine fotografischen Self Performances nehmen die Impulse auf von Marcel Duchamps Selbststilisierungen in Rose Sélavy, Tondu par de Zayas (beide 1921), sowie von Claude Cahuns Selbstportraits der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. In Fotos und Fotosequenzen experimentierten in ihrer Nachfolge auch Pierre Molinier (ab 1955), Günter Brus (Transvestitenaktion, 1967), Eleanor Antin, Manon, Ana Mendieta, Adrian Piper, Katharina Sieverding, Klaus Mettig, Lucas Samaras, Valie Export und Peter Weibel. Jürgen Klauke ist der radikalste, weil er das freie Spiel zwischen Körper, Geschlecht und Subjekt am umfassendsten und fundamentalsten betrieben und somit das Subjekt aus der Tyrannei der Dyade weiblich/männlich befreit hat.
Wenn der Körper zum Geschlecht in Beziehung steht wie der Laut zu seiner Bedeutung, der Signifikant zum Signifikat, dann strebt Klauke ein Geschlecht an, das keine materielle Basis im Körper hat. Das ist das Revolutionäre an seiner Auffassung des
Geschlechts. Das Geschlecht wird nämlich bis heute als Signifikant interpretiert, der von Körper und Natur abgeleitet wird. Klauke dreht das Verhältnis um und definiert das Geschlecht als Signifikat. Das Band, welches Geschlecht und Körper verknüpft, ist beliebig. Es kann jederzeit zerschnitten und neu geknüpft werden. Daß das Signifikat Geschlecht beliebig sei, ist Klaukes revolutionäre Lehre. Für die Vorstellung (Signifikat) Geschlecht kann ich beliebige Signifikanten (Körper) verwenden.
Das Subjekt ist also immer auch der Ort des Anderen, wie Jacques Lacan in dem 1957 verfaßten Aufsatz »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud« ausführte: »Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des Anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage ...«(24) »Das Andere ist mithin der Ort, an dem sich das Ich, das spricht, gemeinsam mit dem konstituiert, der hört, wobei was der eine sagt, schon die Antwort ist, und der andere entscheidet zu hören, ob der eine gesprochen hat oder nicht.«(25)
Das Unbewußte wird der Diskurs des Anderen und qua Unbewußtes lebt im Subjekt ein Anderes. In einem Subjekt steckt also von vornherein nicht nur eine Person, sondern es wimmelt von ›dramatis personae‹. Klauke visualisiert das Subjekt als Schauplatz dieser ›dramatis personae‹. Das lebenslange Thema seiner Kunst ist die persönliche Identität als Wahl, eine paradoxe Koexistenz oder Auseinandersetzung verschiedener psychischer Realitäten in einer physischen Persönlichkeit. Freuds 1923 entworfenes triadisches Modell der Aufteilung der Psyche in Es, Ich und Über-Ich hat Lacan durch die drei Ordnungen des Imaginären, Symbolischen und Realen ergänzt. Das Imaginäre operiert auf der paradigmatischen Achse der Ähnlichkeit, es ist der Schauplatz der ldentifizierungen, der Versuch zu bleiben, was man ist, indem Beispiele eines Ähnlichen herbeigeholt werden. Der Geburtsort eines narzißtischen Ideal-Ichs. Das Symbolische operiert auf der syntagmatischen Achse der Kombination, Kontiguität und Metonymie. Die symbolische Ordnung ist der Bereich der Sprache, des Unbewußten, der Verschiedenartigkeit, der Bewegung. Das Symbolische ist intersubjektiv und sozial. Es ist der Ort der unablässigen Verwandlung und Veränderung der menschlichen Identität, der Versuch zu werden, was man will. Klauke operiert auf der symbolischen Achse der Kombination, Kontiguität und Metonymie, in der symbolischen Ordnung der Sprache, der Bewegung und Verwandlung.
Die Krise der Repräsentation erfaßte also auch das, was bislang als unantastbarer Standard in der Kunst perpetuiert wurde: die Anatomie, das Fleisch, den Körper. Organe, Körperglieder und -flüssigkeiten sind Elemente einer Sprache der Repräsentation sowie Sex, Geschlecht und Körper reine Repräsentationsstrategien. In seinen Zeichnungsbüchern erotographischen tagesberichten (1969–70) und Tageszeichnungen (1973), den Foto-Serien Self Performance (1972–73), Gebaute Figuren (1973) oder Transformer (1973) löst Klauke die einzelnen Elemente aus ihrer biologischen Struktur und sozialen Codierung und beginnt den Umbau der Anatomie und die Inkommensurabilität der Geschlechter im Gefolge des anagrammatischen Körpers von Hans Bellmer. So wie die metonymische Umstellung von Bedeutungen ein Mittel des Unbewußten ist, die Zensur zu umgehen und ein Verfahren, die Regeln zu entdecken, nach denen Sprache funktioniert, enthüllt auch die Rekombination des Körpers die »Wahrheit des Körpers«, wie Hans Bellmer 1934 schrieb: »Anagramme sind Worte und Sätze, die durch Umstellen der Buchstaben eines gegebenen Wortes oder Satzes entstanden sind [...] Offenbar kennt der Mensch seine Sprache noch weniger, als er seinen Leib kennt: Auch der Satz ist wie ein Körper, der uns einzuladen scheint, ihn zu zergliedern, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält.«(26)
Anagramme sind also metonymische und kombinatorische Wort-an-Wort-Operationen in der Signifikantenkette, verzweifelte Versuche, solcherart »Herr« über die Signifikantenkette zu werden. Bellmer hat in seinem 1933 begonnenen und 1954 unter dem Eindruck der Begegnung mit Unica Zürn beendeten Projekt Die Puppe eine Anagrammatik des Körpers entwickelt. Es handelt sich dabei zuerst um Verschiebungen und Vertauschungen, um Spiegelungen und Analogien von Körperelementen ein und desselben Körpers, z.B. die Identität, die zwischen Arm und Bein, zwischen Nase und Ferse bestehen kann, oder die Affinität der Brüste und des Gesäßes, des Mundes und der Vagina. In einer zweiten Stufe kann es sich aber um Projektionen des einen auf das andere handeln, z.B. um Phallus-Projektionen auf den Finger, den Arm, das Bein der Frau oder auf den ganzen Körper der Frau. Schließlich kommt es aber zu Übertragungen, zu seltsam hermaphroditischen Verschachtelungen der Körperelemente von Mann und Frau. »Das Männliche und das Weibliche sind vertauschbare Bilder geworden«. (Hans Bellmer) Diese Vertauschbarkeit der Geschlechter in der Nachfolge Bellmers hat Klauke besonders in seinen Zeichnungszyklen der frühen 70er Jahre mit der anagrammatischen Multiplikation von Organen in bestürzender Qualität und erstaunlicher Aktualität (siehe die Skulpturen von Jake und Dinos Chapman) ausdifferenziert.(27) Der Bogen des anagrammatischen Körpers reicht bei Klauke von den vertrauten Mitteln der Maskerade des als Frau geschminkten Mannes (Ich + Ich, 1970–71, Physiognomien, 1972–73), der Kreation kopfloser Wesen in Gestalt ausgestopfter Strümpfe (1970–71), wie sie später von Sarah Lucas (Bunny, 1997) wieder aufgegriffen wurde, über die grotesken Umstellungen und Auslassungen der körperlichen Elemente (Tageszeichnungen,1973, Self Performance, 1972–73, Transformer, 1973) bis hin zur Rekombinatorik neuer Körper unter Einbeziehung einer weiteren Protagonistin (Heimspiel, 1990–92, Viva España, 1976–79) oder mit Hilfe unbelebter und sexuell nicht konnotierter Objekte (Entrückungserlebnis), Bedingter Reflex, 1990–92). Die anagrammatische Zerstückelung des Körpers und das Umstellen der Körperteile oder ihre Ergänzung durch andere Elemente zu einem neuen Körper (Cyborg) sind zumeist Übertragungen auf körperlicher wie auf symbolischer Ebene, die sich in ihr Gegenteil verkehren. Denn selten »erscheint der Satz, der stromaufwärts oder stromabwärts gelesen, als Mann oder als Frau behandelt, unzerstörbar seinen Sinn beibehält«. (Hans Bellmer)
Die Transgression der Dyade männlich/weiblich ist also das eigentliche Begehren des anagrammatischen Körpers und Subjekts. Im umstellbaren, umformbaren Subjekt spricht der Wunsch nach der Zerschneidung des natürlichen Bandes zwischen Körper, Geschlecht und Subjekt. Ist der Körper eine Sprache, so ist der Aufstand gegen die Sprache, das anagrammatische Umprogrammieren vorgefundener natürlicher Sätze und Wörter, auch ein Aufstand gegen den Körper. Das anagrammatische Umstellen
vorgefundener natürlicher Körperteile und Versatzstücke des Männlichen und Weiblichen ist ein Aufstand gegen den Männlichkeitswahn, den Machismo und gegen die kulturelle Konditionierung des Weiblichen als natürlich. Klaukes metonymische Techniken, besonders in der dritten Phase seiner fotografischen Inszenierungen, der Vermählung seines Körpers mit Objekten sind
Erweiterungen des anagrammatischen Verfahrens Bellmers, denn die Suche nach den »Wörtern unter Wörtern«(28) ist die Suche nach einem verborgenen Sinn/Geschlecht und einem verborgenen Subjekt im Subjekt selbst, nach dem anderen. Im Anagramm wird ein verborgener und anderer Sinn entdeckt als der vorgegebene Satz behauptet. In jedem Subjekt verbirgt sich ein anderes Subjekt. In der Sprache des einen artikuliert sich die Sprache des anderen. Die Sprache des anderen artikuliert sich in der gleichen Sprache und im gleichen Körper wie die Sprache des Selbst.
Die anagrammatische Suche ist also eine Sehnsucht nach der ewigen Veränderbarkeit innerhalb des einen und desselben. Indem die Buchstaben durcheinander geschüttelt werden, wird an der Eindeutigkeit des Satzes und des Sinns gerüttelt. Der alte Satz wird im Anagramm der Vieldeutigkeit überführt, wie das Subjekt der Vielfalt von Stimmen und Selbsts zugeführt wird. Die Stimme des anderen wird im Selbst entdeckt, wie eben mehrere gültige Bedeutungen in ein und demselben Satz. Die Vielidentität des Geschlechts wird offenbart und damit die vielen Möglichkeiten und Optionen einer Geschlechtsidentität. Klauke zeigt uns, daß Identität nicht etwas Natürliches und Ontologisches ist, keine Herrschaft der Gene und Chromosomen. Identität ist etwas
Soziales, sozial Konstruiertes.
Um den Sprung von der Klassik in die Moderne und die Leistungen von Künstlern wie Klauke zu verstehen, sei kurz auf den Wandel der Skulptur eingegangen. Wer Rodins anthropomorphe Plastiken sieht, entdeckt nichts in diesen Figuren, was über das Fleisch der Anatomie und eine konventionelle Darstellung der Geschlechter hinausgeht, man entdeckt nicht einmal die Effekte der Sozialisierung der dargestellten Subjekte. Hier waltet noch die Anatomie als Schicksal. Daher ist Rodins Körperbild so nichtssagend wie beruhigend. Erst im Lichte einer Kritik der Repräsentation, die Klauke auf eine selten entschiedene Weise auf den Körper übertragen hat, entdecken wir, wie der Körper ein Medium ist, ein Medium zur Repräsentation von Geschlecht und damit auch zur Repräsentation von Identität. In diesem Augenblick beginnt die künstlerische Arbeit, im Medium des Körpers, der nicht mehr an Stein und Skulptur gebunden ist, sondern auch Performance und Fotografie sein kann, eine Kritik des Körpers und der damit verbundenen Repräsentationsstrategien vorzutragen. Das ›theatrum organum‹, das Theater der Organe, das Klauke inszeniert, analysiert nicht nur die unterschiedlichen Formen sexueller Repräsentation und Sozialisation, vielmehr entdecken wir in diesem kakophonen, anagrammatischen Theater der Organe den Sex und das Geschlecht selbst. Wird der Körper zum künstlerischen Medium, wird er zum Medium der Repräsentation. Klauke kritisiert den Körper als Medium der Repräsentation von Geschlecht. Er betreibt Antirepräsentation, Bildkritik, Körperkritik. Er stellt im Medium Körper, im Bild des Körpers in Frage, was der Körper repräsentiert. Er behauptet, der Körper repräsentiert das Geschlecht des Subjekts nur unvollständig, nicht normativ.
Sex, das zeigt uns Thomas Laqueur in seiner Geschichte des Sexus von den Griechen bis zu Freud, Making Sex(29) ist ein Artifice, eine von Wissenschaftlern, Literaten, politischen Aktivisten und Theoretikern jeder Farbe erfundene Geschichte. ›Sex is a story‹ und wird immer wieder neu erzählt. Die Erzählungen der Geschlechterdifferenz, des Körpers und des Sexus, die Klauke in seinen Fotografien und Performances vorgetragen hat, haben aktuellste Positionen wie die von Judith Butler vorweggenommen. In Das Unbehagen der Geschlechter(30) hat Butler jene Geschlechterfabeln, die Konstruktion der heterosexuellen Matrix, die Zwangsordnung der Geschlechtsidentiät untersucht. Sie fragt, welche Kontinuitäten zwischen Geschlecht (Sex) und Geschlechtsidentität (Gender) in der Sprache der Heterosexualität suggeriert werden. Bringt die Sprache selbst die fiktive Konstruktion des Geschlechts hervor? In Bodies That Matter (1993) schreibt sie: »Sex is, from the start, normative; it is what Foucault has called a ›regulatory ideal‹. In this sense, sex not only functions as a norm, but is a part of a regulatory practice that produces (through the repetition or iteration of a norm which is without origin) the bodies it governs, that is, whose regulatory force is made clear as a kind of productive power, the power to produce – demarcate, circulate, differentiate – the bodies it controls ... ›sex‹ is an ideal construct which is forcibly materialized through time«.(31) Genau das ist es, was Klaukes Kunst par excellence tut. Sie stellt eine Unstimmigkeit zwischen Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren her. Sie dereguliert die starren hierarchischen sexuellen Codes durch Clownerien, durch Groteske, durch Multiplikation, durch Übertreibung, durch Vergrößerung. Sie zeigt die Produktion der heterosexuellen Matrix als Maske innerhalb eines Machtregimes, innerhalb einer maskulinen Sexualökonomie. Die zentrale Frage des Geschlechterdiskurses lautet: Wie werden die Kategorien des Geschlechts konstruiert? Durch die Sprache? Durch Sozialisation? Durch Machtdiskurse? Klaukes performative Akte und Tableaux vermitteln kritische Einsichten in die Regulierungsverfahren der Geschlechtsidentität, der Körperpolitik und der Subjektkonstitution.



IV. (Desaströses Ich oder Masken und Marionetten im Medium Fotografie)

Beim Wechsel von der modernen zur postmodernen Kunst hat die Fotografie eine entscheidende Rolle gespielt. Mann könnte diesen Wechsel auch als ›semiotische Wende‹ bezeichnen. Darunter kann man den Übergang von der Materialität der klassischen Moderne zur Immaterialität der kritischen Postmoderne verstehen, bzw. den Übergang von der Dominanz des Signifikanten, der materiellen Erscheinung, zur Dominanz der Signifikaten, der immateriellen Vorstellungen und Begriffe, bzw. den Übergang von der Produktion von Objekten zur Produktion von Zeichen, z.B. die Konzeptkunst. In der Praxis der Kunst hatte dies zur Folge, daß beispielsweise eine Skulptur, die bisher aus Holz oder Marmor geschaffen wurde, aus einer bloßen Kette von Signifikaten in Form linguistischer Zeichen oder fotografischer Bilder bestehen konnte. Bei dieser für die Kunst nach 1945 entscheidenden Transformation des objektgebundenen Skulptur- bzw. Werkbegriffs in einen zeichenbasierten Werkbegriff haben Klaukes Beiträge eine wichtige Rolle gespielt. Denn mit seiner Verschränkung von Körper, Skulptur, Identität, Performance und Medium schrieb Klauke eine neue Gleichung, gerade indem er die klassische Korrelation von Skulptur und Körper (à la Rodin) scheinbar beibehielt, aber sie in Wahrheit durch die Übertragung vom materiellen Medium des Steins in das immaterielle Medium der Fotografie dekonstruierte. Mit der Veränderung hin zu einem medialen semiotischen Skulpturbegriff hat er auch eine Veränderung des Körperbegriffs bewirkt.
Der postmoderne Künstler reagierte auf die Krise der Repräsentation, indem er sich nicht mehr auf eine direkte Wirklichkeit bezog, sondern auf die medial vermittelte Wirklichkeit oder in ›privaten‹ Inszenierungen, eigens für die Kamera entworfenen Szenen, diese mediale Wirklichkeit selbst konstruierte. Es ist das Medium Fotografie, mittels dessen ein postmoderner Künstler wie Jürgen Klauke seine zentralen Anliegen vorbringen kann. Die Krise der Repräsentation löste er mit einem Wechsel des Mediums, wo die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem, von Körper und Subjekt neu definiert werden kann. Jürgen Klauke redefiniert mit Hilfe der Fotografie als adäquatem Medium die Repräsentationsfrage, die Beziehung von Kunst und Wirklichkeit und somit den Realitätsbegriff.
Die Fotografie eignet sich exemplarisch für eine semiotische Betrachtungsweise, wie sie durch die linguistischen Methoden und semiotischen Theorien von Charles S.Peirce, Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson und die Arbeit von Roland Barthes und Umberto Eco in den 70er Jahren in die Kunsttheorie eingeführt wurden. Die Fotografie war ursprünglich das ikonographische Medium par excellence, da es historisch das wirklichkeitsgetreueste Abbildungsmedium war. Aber durch die Künstler der 60er und 70er Jahre, die sich wie Jürgen Klauke mit der Differenz zwischen Zeichen und Objekt, zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen Bild und Realität intensiv beschäftigten, ist die Indexikalität der Fotografie,(32) an der sich die Indexikalität der postmodernen Kunst ausbildete, nochmals deutlich hervorgetreten. Die Möglichkeiten der Fotografie zur modellhaften Konzeptualisierung sozialisierter Formen der Selbstdarstellung und ihrer Transgression werden von Klauke optimal ausdifferenziert.
Die Möglichkeiten der Fotografie als Medium für die neuen künstlerischen Ausdrucks- und Handlungsformen wie Prozeßkunst, Land Art, Body Art, Concept Art, Appropriation Art hat Christopher Phillips in seinem Essay »Das phantome Bild« in elf brauchbare Kategorien eingeteilt: 1. Fotografie als physisches Element in Collage, Appropriation etc. 2. Fotografie als Modell im Rahmen der Malerei. 3. Fotografie als Dokument von Aktion und Performance. 4. Fotografie als Report über Arbeiten in situ (Land Art etc.). 5. Fotografie als Werkzeug von sozialen Analysen. 6. Projizierte Fotos. 7. Fotografie als Inszenierung, als Dramatisierung. 8. Fotografie als Archäologie. 9. Fotografie als Zeichenwelt. 10. Fotografie als Text-Bild-Kombination. 11. Fotografie als Kritik des
lllusionismus.(33)
Klauke verwendet Fotografie von Anfang an als Informationsträger, als Dokument von performativen Inszenierungen (Ich + Ich, 1970/71). Vom Video- oder Foto-Dokument und dessen Anspruch auf Authentizität ging Klauke bald zum konstruierten und inszenierten Bild über. In fotografischen Sequenzen schuf er mit seinem eigenen Körper, später mit den Körpern anderer und mit Objekten, Bild-Erzählungen, die sich dem Zusammenwirken der Performance-Erfahrung und der »photographic condition« (R. Krauss) verdanken. Mit diesen Inszenierungen, den hoch formalisierten und fotografisch perfekt verwirklichten ›tableaux vivants‹, entwickelte Klauke die künstlerische Form der ›living sculpture‹ weiter, die Cindy Sherman, Jeff Wall, Jeff Koons u.a. später zu internationaler Anerkennung führte. Die Konstellation zwischen dem Künstler, der seinen eigenen Körper als Material einsetzt und einem Koaktanten hinter der Kamera, der auch der agierende Künstler selbst sein kann, kennzeichnet die Werke von Valie Export, Gina Pane, Vito Acconci, Dennis Oppenheim, Klaus Rinke, William Wegman wie das Werk von Jürgen Klauke. Klaukes Arbeit war dabei nicht nur die kontinuierlichste, sondern auch die zielgerichtetste. Seine Selbstdarstellungen vor der Kamera bzw. Darstellungen der Heterosexualität mit einer Koaktrice könnten dabei sowohl auf einen von heterosexuellen Dispositiven gesteuerten Beobachter zugeschnitten sein als auch diesen irreführen oder abstoßen. Die im Medium Fotografie inszenierten ›Maskeraden‹ der Geschlechterdifferenz sind der implizite negative Bezugspunkt der Selbstinszenierungen als Fremdinszenierungen. 1956 erschien Günther Anders’ Buch Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution.(34) In ihm beschreibt er die Verschmelzung von Bildern und Wirklichkeit, von persönlichem und sozialem Leben durch die technischen Medien. Das Ereignis wird erst in seiner Reproduktionsform, also als Bild sozial wichtig. Der Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Bild wird aufgehoben. Das Wirkliche wird zum Abbild seiner Bilder. Die in Bildern unendlich reproduzierten Zeichen des Femininen und Maskulinen, der sexuellen Differenz, werden real bestätigt und extrapoliert. Diese Phantome sind damit nicht nur Matrizen, Schablonen der Welterfahrung, sondern werden zur Welt selbst.
Schon in seiner ersten Phase der künstlerischen Fotografie, die als exzentrische Selbstdarstellung weithin mißverstanden wurde, zeigt uns Klauke die Phantom- und Matrizen-Welt der Postmoderne am Beispiel des Selbst. Er zeigt uns das reale Ich als
Reproduktion seiner Reproduktion in den Massenmedien. Seine erste wichtige Fotoarbeit, eine Sequenz von zwölf Bildern, heißt Self Performance (1972), in der er sich von einem männlichen in ein weibliches Wesen verwandelt, sich mit erfundenen, aus Stoff genähten Relikten, die femininen und maskulinen Geschlechtsteilen nachgebildet sind, präsentiert. Wäre das Selbst eine Kategorie des Seins, bedürfte es keiner Performance, keines Theaters, keines Ereignisses, das es darstellt. Aber das Selbst ist eine Matrize in der postmodernen Techno-Welt, also muß es reproduziert werden. Erst das Abbild, die fotografische Reproduktion der sozialen Reproduktion des Selbst, schafft das Sein des Selbst. Es gibt kein Original, sondern das originale Selbst richtet sich nach seiner Reproduktion. Selbst bedeutet Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein.
Ist das Selbst kein Original, kein Sein, sondern nur Serie und Reproduktion einer Matrize, dann ist das Ergebnis dieser Matrize variabel. Deswegen arbeitet Klauke schon in seinen sogenannten Selbst-Portraits und -Performances in Serien und in Sequenzen und mit einer variablen Identität, um den seriellen Charakter des Selbst, gestampft aus einer Matrize, zu verdeutlichen. Der Sequenzcharakter seiner Bilder und der Sequenzcharakter seiner Subjekte sind die Bedingungen der ersten Phase seines Werks, die sich sowohl formal wie inhaltlich gegenseitig beeinflussen. Innerhalb dieser variablen Matrize gibt es keine konstante Identität. Im seriellen Reproduziertsein (im Foto), welches das Sein ersetzt, gibt es kein konstantes Ich (Philosophie der Sekunde, 1976). »Jedem begegnet« in der postmodernen Techno-Welt »sein eigenes Leben in Form einer Bilder-Serie«, als eine Art von »autobiographischer Galerie«(35). Auch das Selbst wird zu etwas Unwirklichem und Phantomhaftem. Daher kann das Subjekt Identität und Geschlecht wechseln.
Fallen die Differenzen zwischen Bild und Realität, fallen auch die Differenzen zwischen den Geschlechtern. Die sexuellen Identitäten werden austauschbar. Nicht Klauke ist ein Selbstdarsteller, ein Chamäleon, sondern jedermanns und jederfraus Selbst ist in der postmodernen Welt eine Darstellung, eine Performance, eine Reproduktion, gewählt aus den Bildern, die uns die Gesellschaft in den massenmedialen Bildern und TV-Serien anbietet. Jedes Selbst und damit auch die sexuelle Identität ist die Reproduktion einer seriellen Matrize. Die Aufhebung der konstanten Identität macht Klauke daher besonders am Beispiel der Geschlechter-ldentität (Maskulin/Ferminin, 1974) deutlich. Das Ich ist eine temporär begrenzte Selektion aus einer Reihe möglicher Matrizen-lchs, daher der Titel ICH + ICH (1970/71). In der postmodernen Welt vermischen sich Öffentlichkeit und Privatheit im Individuum, dringt die massenmedial reproduzierte Privatheit anderer in unsere eigene private Sphäre und unterwirft uns der »Tyrannei der Intimität«, wie Richard Sennett es formulierte.(36)
Klauke verdoppelt und verdreifacht sein Selbst in den Fotografien. Das Selbst wird polyvalent, sexuell ambivalent. Ein multiples Selbst zeigt sich uns in der postmodernen Welt der Matrize im postmodernen Medium par excellence, der Fotografie. Klauke reproduziert sein Ich und sein Leben in Form von fotografischen Bild-Serien, weil heute jedes Ich und jedes Leben eine Bilder-Serie ist. Insofern gilt Gerhard J. Lischkas Diktum über Klaukes frühes Werk, es sei der Entwurf eines Selbstbildnisses als Portrait der Gesellschaft.(37) Sua cuique persona. Jedem seine Maske. Taucht unter der Maske das wahre Ich auf oder kommt das Subjekt erst in der Maske zu sich? Verbirgt sich hinter der Maske kein Subjekt, sondern Anonymität? Die obsessive Doppelgeschlechtlichkeit, das multiple Selbst, die Phantom-ldentitäten, die Metamorphosen des Ich, der Transformer und Performer Klauke, all diese »Facetten einer pluralen Persönlichkeit«, welche die Phase der fotografischen Produktion von Klauke in den 70er Jahren bestimmen,
zeigen Klaukes erstaunlich frühes Verständnis für die Bedingungen der postmodernen Welt und für die Bedingungen der Fotografie. Der »pluralen Persönlichkeit« im frühen fotografischen Werk Klaukes entspricht dem pluralen Weltbild der Postmoderne, wie es Wolfgang Welsch 1988 formuliert hat: »Die Postmoderne ist diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster vordringlich, ja dominant und obligat werden. [...] Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural [...] Die Option der Postmoderne gilt der Pluralität von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Sozialkonzepten, von Orientierungssystemen und Minderheiten ...«(38)
Nur wenige haben bereits in den 70er Jahren diese radikale Postmoderne in ihrem Werk repräsentiert. Erst in den 80er Jahren wurde die postmoderne plurale Persönlichkeit auch in den USA entdeckt. Aber KünstlerInnen wie Valie Export, Katharina
Sieverding, Urs Lüthi, Peter Weibel und Jürgen Klauke haben in Europa bereits in den 60er und frühen 70er Jahren die Welt der massenmedialen Phantome und Rollenspiele gezeigt, um die Dissimulation der Geschlechterdichotomien zu erreichen.
Der bislang letzte Zyklus von Klauke trägt den Titel Desaströses Ich (1995–97). Der Körper löst sich, wie in Sonntagsneurosen (1990/1992) bereits angelegt, in der Objektwelt auf, wird zu einem Requisit einer fremdbestimmten Welt. Die Frage nach dem Subjekt hat sich in einer Inszenierung des Subjekts als leblose Marionette aufgelöst. Die Anonymität der Antlitze verschärft sich zur Maskerade der Marionetten. Masken und Marionetten sind Verweise auf die Leblosigkeit und Ich-losigkeit. Identität ist ein Desaster-Feld. Das letzte Kapitel von Klaukes Kunst endet apokalyptisch wie Heinrich von Kleists Essay »Über das Marionettentheater« (1810): der Mensch als letztes Kapitel von der Geschichte der Welt. Der entpersönlichte Körper, der die Divergenz von Subjekt und Körper, von Geschlecht und Körper bestärkt, antizipiert den unbelebten Körper, den toten Körper, das Skelett. Die Dyade weiblich/männlich wird zur Dyade Leben/Tod. Das Foto wird zur Effigie.



V. (Prosecuritas oder die Welt als Phantom und die Kritik der Visualität)

Die Performance als künstlerische Strategie der 60er und beginnenden 70er Jahre ermöglichte, die Kunst aus dem rigiden Rahmen der traditionellen Medien und deren hermetisierten ästhetischen Codierung herauszureißen und zugleich ihren Marktaspekt zu liquidieren. Klauke inszenierte seine Aktionen von Anfang an, von einigen Ausnahmen abgesehen (Hinsetzen/Aufsteh’n, The Harder They Come), für das Bild. Klauke hat die Performance und Body Art mit Hilfe der Fotografie umgeformt in einen intermediären Akt, um den Übergang von der Moderne in die Postmoderne, den semiotischen Wechsel zu schaffen: Vom Körper zum Zeichen, vom Sein zum Reproduziertsein. Durch private Performances vor der Fotokamera, nicht durch fotografische Dokumente der Realität, hat Klauke konkrete gesellschaftliche Inhalte in die Kunst gebracht und damit schon seit den frühen 70er Jahren die postmoderne fotografische Kondition erkannt.
Nach der ersten Phase, in den 70er Jahren, mit ihren multiplen Inszenierungen des Selbst, hat Klauke in den 80er Jahren sich selbst, seine eigene Person, aus der szenischen Darstellung zurückgezogen. Leere Jacken, Eimer, Tische, Hüte, Spazierstöcke – das Vokabular der Kontiguität, die Gegenstände, die an den Körper angrenzen – substituieren das Selbst, vertreten seine Stelle. Objekte beginnen seit der Formalisierung der Langeweile (1980–81) das Subjekt, die Figur des Künstlers zu ersetzen. Mit Hilfe von Freunden, Fremden und Gegenständen verwandelt Klauke das Theater des Selbst in das Theater des Sozialen. Es erfolgt der Wechsel vom Selbst zum Sozialen.
Die zweite Phase des fotografischen Werkes von Klauke in den 80er Jahren zeigt Szenen des Sozialen, Stilleben der sozialen
Kondition und keine Inszenierungen eines multiplen Selbst.
Dennoch spielt die Grundmelodie der sexuellen Inkommensurabilität, die sein Werk bestimmt auch in den objektualen Inszenierungen noch eine zentrale Rolle. Es sind nun multiple Objekte wie zahlreiche Hüte, Eimer, Spazierstöcke, welche die Dekonstruktion der Monovalenz und die Etablierung der Multivalenz leisten. Ihr versteckter sexueller Inhalt, Signifikanten für Geschlechterdifferenzen, für primäre Geschlechtsorgane zu sein, tritt in den Hintergrund, um eine reicher orchestrierte Kritik der Bedingungen der postmodernen Welt ausrichten zu können. Gerade in der funktionalen Maskerade der Dinge, im ›theatrum rerum‹, sehen wir noch die gleichen Prinzipien wirken wie im reinen ›theatrum organum‹, nämlich die Prinzipien der Pluralität und Multiplizität der absurden Kombinatorik und Arbitrarität der Beziehungen, welche Prinzipien durch die Codierung in vertrauten Alltagsgegenständen umso befremdlicher wirken.
Das Verfahren der Multiplikation im Objektbereich wiederholt das Prinzip der Inkommensurabilität, die Nicht-Vermeßbarkeit, die Maßlosigkeit, das Klauke bereits im Subjektbereich angewendet hat. Zahlreich sind die Sequenzen leerer Jacken und leerer Stühle oder leerer Jacken auf leeren Stühlen oder Jacken, die Subjekte verbergen, oder Jacken, die Stühle bedecken, die Subjekte verbergen, oder Eimer, die Köpfe verbergen. Die Logik dieser sequentiellen Anordnung von Objekten ist die stringente Logik Becketts und der Komik. Das metonymische Verfahren der Kontingenz, typisch für Klaukes Prozedere und Klaukes Performativität, tritt besonders deutlich in Sequenzen aus Formalisierung der Langeweile zutage, wo Klauke auf einem Stuhl sitzt, auf der Lehne dieses Stuhles eine Jacke, darunter ein Individuum, vor Klauke ein weiterer leerer Stuhl, auf dem wiederum eine Jacke hängt. Das Spiel der Shifter, der metonymischen Verschiebung wird auf die Objekte übertragen, die an das Subjekt angrenzen. Die leeren Eimer, die über den Kopf gestülpt wurden, wiederholen im Objektbereich die Funktion der Maske, die Löschung des Antlitzes. Ein leerer Kübel unter einem leeren Sessel, auf dem ein leeres Jackett hängt, verdichtet metonymisch die Absenz des Subjekts. Die Vermummung, die wir von der Arbeit Antlitze bis zu den Geschlechtermasken als Verfahren kennengelernt haben, reduziert sich auf die reine Objektwelt. Wie die vermummten Clowns in Samuel Becketts TV-Stück Quadrat 1+2 (1982) sich in einer bestimmen geometrischen Logik durch den Raum bewegen, so verhalten sich die vermummten Gegenstände von Jürgen Klauke. Die leeren Tische und Hüte und Sessel und Jacken, in immer neuen Konstellationen, sind vermummte Objekte, die sich verhalten wie vermummte Subjekte. Becketts Figuren des Endspiels sind nah. Die ›tableaux vivants‹ der leeren Gegenstände, die Stilleben der Objektvermählungen, die ›nature morte‹ der Objekte, immer in schwarzen, grauen Farbtönen gehalten, zeigen eine gespenstische und absurde Welt, wie Beckett und Ionesco sie im Theater erfunden haben. Die Entfaltung der Beziehungen zwischen den Objekten und den Subjekten bleibt eine wichtige Bühne der Inszenierung (Sonntagsneurosen, 1990/92). Im Beziehungsspiel zwischen den Dingen, z.B. Stühle, Tische, Eimer, Hüte, Spazierstöcke werden die Strukturen der empirischen Wirklichkeit verdreht und verrückt. Klauke entwickelt das Vokabular einer wahnsinnigen Bilderwelt als Korrelat für eine wahnsinnig gewordene Welt.
In der dritten Phase seiner fotografischen Kunst fotografiert Klauke nicht mehr die Realität, sondern nur mehr Bilder vom Bildschirm, Phantome und Gespenster. Mit dem Prosecuritas-Zyklus (1987–91) produziert Klauke keine Bilder von Gegenständen mehr, sondern Spuren von Strahlen auf einem Bildschirm. Kein Abdruck oder Abbild der Realität findet mehr statt, sondern eine Abbildung der verstrahlten Welt, der Welt der Phantome und Matrizen. Der Bildschirm zeigt Bilder, die aus Strahlen bestehen. Abbilder von Bildern, die aus Strahlen bestehen, sind indexikalische Zeichen. Indem nun Klauke nicht mehr sich selbst oder andere, nicht mehr Gegenstände fotografiert, sondern den Bildschirm jener Durchleuchtungsmaschinen, wie wir sie von internationalen Flughäfen kennen, hat seine Fotografie insgesamt einen postmodernen indexikalischen Charakter bekommen.
Die Fotos dieser dritten Phase haben die Kraft von letzten Bildern. Sie bilden das Gegengewicht des Unsichtbaren gegen das Zuviel an Sichtbarkeit in den Massenmedien. Sie bilden indexikalisch das Negativ zur heilen und positiven Welt der Massenmedien. Aber auch Klaukes Zeichnungen der späten 70er Jahre zeigen schon eher Drahtmodelle von Figuren als wirkliche Figuren, sozusagen digitale Skizzen des Menschen, von einem Computer gefertigt und nicht von einem Menschen. Klaukes Zeichnungen in dem Buch Kappes-Köppe nach allen Regeln der Kunst (1977/78) zeigen Köpfe und Leiber, die Anders in seinem Buch von 1956 Die Antiquiertheit des Menschen bereits »Engel des Industriezeitalters« genannt hat. Anders’ Darstellung beschreibt genau Klaukes Zeichnungen. »Die Beliebtheit jener heutigen Zeichnungen, deren drahtige Konturen das Volumen des Dargestellten völlig leer lassen«, bezieht Anders auf die Phantomwelt des industriellen Apparates und der seriellen Re-/Produktion, auf das System der massenproduzierten, -distribuierten und -rezipierten Bilder, welche die Matrizen der Welterfahrung darstellen, wo das Wirkliche nur als Reproduktion der Reproduktion erscheint. In dieser postmodernen Phantomwelt herrschen »leiblose Gebilde«, eben »Engel des Industriezeitalters«, die den »leiblichen Rest auf ein infinitesimales Minimum herabdrücken« (Anders). Dieses »engelhafte Dasein« (Anders), »leibloses Gebilde« zu sein, bloßes Phantom, hat Klauke in seiner dritten Phase der Fotografie, beginnend Ende der 80er Jahre, auf die Welt der Dinge ausgedehnt. Die Welt der Gegenstände erscheint als eine Zone gespensterhafter Realität, als Reflektionsfläche der neuen Maschinen- und Medienwelt.
Mit dem Prosecuritas-Zyklus ist Klauke endgültig in das Reich der Phantome vorgedrungen, in die Zone des letzten Bildes, in die gespenstische, bedrohte Wirklichkeit. Die aus Strahlen bestehende Bilderwelt, wo Menschen und Dinge nur mehr Reflexe von Strahlen sind, gleichsam die verstrahlte Welt nach der Geschichte, zeigt uns neue gefährliche Zonen der Visibilität. Klauke hat die Sichtbarkeit an die äußerste Grenze vorangeschoben, wo nur mehr die Strahlen sichtbar sind. Er ist in eine Zone letzter Sichtbarkeit und letzter Bilder eingetaucht. Seine Endbilder zeigen uns eine aus Lichtpartikeln und Strahlenspuren zusammengesetzte gespensterhafte Realität, die Medienwelt des postindustriellen Zeitalters. Im Prosecuritas-Zyklus hat Klauke das Universum der visuellen Zeichen zu einem Universum indexikalischer Zeichen spezifiziert. Der ikonische Aspekt des fotografischen Bildes wurde gedämpft und der indexikalische Aspekt betont. Mit dieser indexikalischen postmodernen Fotografie liefert er präzise Bilder der postmodernen Kondition der Gesellschaft, in der die Medien nicht mehr über eine separate Realität berichten, sondern wo die Welt ein Hybrid von Abbild und Wirklichkeit, von Sein und Reproduziertsein, von Körper und Körperlosigkeit ist. In dieser indexikalischen Ästhetik ist die Fotografie keine »Botschaft ohne Code«(39) (R. Barthes) mehr, auch kein Code ohne Botschaft, sondern der Code ist die Botschaft. So wie er auf der Ebene der Konstruktion von Identität und sexueller Differenz die Krise der Repräsentation mittels des Körpers als Medium zur Aufführung bringt, so erfüllt auch der Prosecuritas-Zyklus als fotografische Repräsentation indexikalischer Prozesse die erste Bedingung postmoderner Kunst: ›rethinking representation‹.
Die Erweiterung der ichbezogenen Darstellung zu einer sozialbezogenen Darstellung als zweite Phase seiner Entwicklung kann schon mit dem Konzeptbuch von 1978/80 belegt werden, das den Titel Das Innenleben der Dinge trägt. Hier ist die Wende vom Innenleben des Subjekts zum Innenleben der Dinge schon angedeutet. Nur bedurfte es noch Jahre von Überlegungen, bis Klauke die entsprechende Technik fand, das Interieur der Dinge auszuleuchten. Beim Wechsel von der Fotokamera, die Bilder von der Realität zeigt, über die Videokamera, die Bilder auf dem Bildschirm zeigt, zum Bildschirm selbst, von dem der Fotoapparat die Bilder herstellt, geschieht nicht nur ein Wechsel innerhalb der ontologischen Hierarchie, vom Sein zum Schein, sondern auch ein Wechsel innerhalb der Zonen der Visibilität. Unfaßbare und unzugängliche Strukturen und Aspekte der Wirklichkeit werden durch die neue Technologie des Visualisierens sichtbar. Klauke nähert sich einer post-ontologischen Kunst. Es geht ihm weniger um die Innenseite der Dinge und Personen als vielmehr um die Innenseite des Sehens selbst. Klauke zeigt mit den Prosecuritas-Bildern, daß sich sein Interesse nicht nur auf das Selbst und das Soziale in der postmodernen Phantomwelt richtet, sondern auch auf die Technik der Repräsentation, die Technologie der Visibilität selbst, also auf jene technische Verfahren, die bestimmen, was sichtbar ist und was nicht, was repräsentiert wird und was unrepräsentiert und unsichtbar bleibt. Diese Betrachtung der Latenz,
dieses Beobachten von Prozessen der Erscheinung gibt den Fotografien von Klauke eine alchemische und magische Dimension, die ihn mit anderen deutschen postmodernen Künstlern wie Sigmar Polke und Anna und Bernhard Blume verbindet. Im Prosecuritas-Zyklus sind nicht die Darstellungsinhalte künstlich inszeniert, sondern die Darstellung selbst. Klauke treibt hier mit seiner Technologie des Unsichtbaren die Fotografie über die Grenze von Objekt und visuellem Zeichen hinaus. Das Eintauchen in die Zone letzter Bilder und letzter Sichtbarkeit ermöglicht die Rückkehr des Realen, aber im Zustand seiner Bedrohtheit, d.h. seiner Phantomhaftigkeit. Indem die Repräsentationsfähigkeit der Bilder in Frage gestellt wird, wird auch die Repräsentationsfähigkeit des Körpers in Frage gestellt. Die Krise der Repräsentation wird zur Repräsentation der Krise.

 

Anmerkungen

  1. Clement Greenberg: »The Crisis of the Easel Picture«, in: Partisan Review, April 1948 sowie Clement Greenberg:
    Art & Culture: Critical essays. Boston 1961, S. 223–225
  2. Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München 2001
  3. vgl. Tracey Warr und Amelia Jones: The Artist’s Body. London 2000
  4. Aristoteles: De Generatione Animalium, 1.2.716a13–14, 716a20–22, 4.3.768a25–28
  5. Henry Mayhew: London Labour and the London poor. London 1861, reprint: New York 1986
  6. Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe. Paris 1949
  7. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass. 1990, S. 196
  8. vgl. Slavoj Zizek: »Die Nacht der Welt. Das Genom ist nicht der Ort unserer Identität«, in: Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 23. September 1999, S. 15
  9. Jean-François Lyotard: Die Transformatoren Duchamp. Stuttgart 1987, S. 31
  10. vgl. Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture. Paris 1953 sowie Michael Langer:
    Kunst am Nullpunkt: eine Analyse der Avantgarde im 20. Jahrhundert. Worms 1984
  11. vgl. Pierre Bourdieu: La domination masculine. Paris 1998
  12. »Alias Aliter oder das Subjekt als Sprachspiel: Claude Cahun – Verschieber, Diktatur der Dyade m/w«, in: Kat. Claude Cahun, Kunstverein München,
    hrsg. v. Heike Ander und Dirk Snauwaert. München 1997
  13. Laura Mulvey: »A Phantasmagoria of the Female Body: The Work of Cindy Sherman«, in: New Left Review, Nr. 188, Juli/August 1999;
    Abigail Solomon-Godeau: »Suitable for Framing: The Critical Recasting of Cindy Sherman«, in: Parkett, Nr. 29, 1991; Rosalind Krauss und Norman Bryson:
    Cindy Sherman 1975–1993. Mailand/New York 1993
  14. Roman Jakobson und Linda Waugh: The Sound Shape of Language. Brighton 1979
  15. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Paris 1916 (Dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, S. 145)
  16. Roman Jakobson: »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb« (1957), in: Selected Writings I1 (SW//). Den Haag 1971,
    S. 130–147. (Dt. »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, in: R. J.: Form und Sinn. München 1974, S.35ff.)
  17. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen II (1901), 2. Auflage. Halle a.d.S. 1913
  18. Otto Jespersen: Language: It’s Nature, Development, and Origin. New York 1923
  19. Joan Riviere: »Womanliness as a Masquerade«, in: Formations of Fantasy, hrsg. v. Victor Burgin, James Donald, Cora Kaplan. London 1986
  20. Joan Riviere: »Womanliness as a Masquerade«, in: Formations of Fantasy, hrsg. v. Victor Burgin, James Donald, Cora Kaplan. London 1986, S. 35
  21. Joan Riviere: »Womanliness as a Masquerade«, in: Formations of Fantasy, hrsg. v. Victor Burgin, James Donald, Cora Kaplan. London 1986, S: 38
  22. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II. Freiburg i.Br. 1975, S. 130
  23. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II. Freiburg i.Br. 1975, S. 132
  24. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, S. 143, in: J. L., Schriften, Bd.1.
    Olten 1973 (J. L., Ecrits. Paris 1966, S. 299)
  25. Jacques Lacan: »La chose freudienne«, in: J. L.: Ecrits, a.a.O., S. 431
  26. Hans Bellmer, in: Unica Zürn: Das Weisse mit dem roten Punkt. Texte und Zeichnungen. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1988, S. 223
  27. FAG-HAG. Jürgen Klauke. Tageszeichnungen 1974. Frankfurt 1976
  28. Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980; vgl. auch
    Ferdinand de Saussure: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, hrsg. v. Jonannes Fehr. Frankfurt a.M. 1997
  29. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge/Mass. und London 1990
  30. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991
  31. Judith Butler: Bodies That Matter. London 1993, S. 1
  32. Rosalind E. Krauss: »Notes on the Index: Part I«, in: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths. Cambridge/Mass. 1985
  33. Christopher Phillips: »Das phantome Bild«, in: Photographie in der deutschen Gegenwartskunst. Stuttgart 1993
  34. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956), 5. Auflage. München 1980
  35. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956), 5. Auflage. München 1980, S. 182
  36. Richard Sennett: The Fall of Public Man. New York 1977
  37. »Jürgen Klauke im Gespräch mit Hans-Michael Herzog und Gerhard Johann Lischka«, in: Kunst heute Nr. 19. Köln 1997
  38. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1988, S. 4
  39. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M. 1982, S. 40