Im Schatten des Doms (Ritual Trinken)
documenta 6, Kassel, Performance-Raum im Fridericianum,
1. und 2. Juli 1977, 17 Uhr
Akteure: Jürgen Klauke und Marcel Odenbach. Installation, Toncollage, Slides, Live-Akt, ca. 30 min

Literatur:

Die Installation bestand aus einem Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war, und diversen Requisiten. Im Hintergrund wurden Dias mit Aufnahmen von Klaukes Fotosequenz Im Schatten des Doms – Grüße vom Vatikan gezeigt. Ein Tonband spielte Musik von Vivaldi und Jim Morrison. Zunächst diente der Tisch als Altar. Begleitet von Musik bereitete Marcel Odenbach den ›Meßtisch‹ vor, während Klauke hinter dem Tisch stand, sich verneigte, bis seine Stirn auf den Tisch stieß, niederkniete, im ›Meßbuch‹ (documenta-Katalog) ›las‹, ›betete‹ und sich von seinem ›Meßdiener‹ (Odenbach) den Kelch mit dem ›Meßwein‹ reichen ließ, den Kelch hob und dem Publikum zuprostete. Das Ritual wurde ständig wiederholt, bis es, allem Feierlichen entledigt, in eine banale Kneipensituation überging. Klauke setzte sich auf einen Barhocker. Der Tisch wurde zur Theke, der Meßdiener zum Kellner, der Geistliche zum Gast, der rauchte und sich betrank. Indem Klauke den Tisch umwarf und mit einer Axt auf ihn einschlug, machte er der Performance ein Ende.
1972 fand die Kunstform der Performance erstmals Berücksichtigung innerhalb einer documenta. 1977 auf der documenta 6 gab es dann ein umfangreiches Performance-Programm. Eine gleichermaßen wichtige Rolle spielte die Performance 1977 auf dem Kunstmarkt in Bologna und dem Internationalen Kunstmarkt in Köln, so daß für dieses Jahr von einem ersten Höhepunkt der Performance und ihrer Rezeption in Europa gesprochen werden kann.(1)
Zwischen der Eröffnung der documenta am 24. Juni und dem 10. Juli und in der Woche vom 10. bis 17. September wurden täglich zumeist mehrere Performances aufgeführt. Sie fanden in einem eigens dafür vorgesehenen Performance-Raum im Fridericianum, auf dem Friedrichsplatz, dem Theatervorplatz, im Zwehrener Turm und im Apollosaal der Orangerie statt. Konzipiert und organisiert von Joachim Diederichs, waren Bruce McLean, Ben d’Armagnac, Stuart Brisley, Antoni Miralda, Reindeer Werk, Scott Burton, H.A. Schult, Gina Pane, Jürgen Klauke, Laurie Anderson, Jared Bark u.a. eingeladen.
Marcel Odenbach erinnert sich, daß sie die Performance zwar vorher geübt hatten, bei den Aufführungen jedoch viel improvisierten. Das Publikum war sehr unruhig, das Kommen und Gehen zufällig passierender documenta-Besucher machte sich in dem engen Raum besonders bemerkbar. Zwischendurch stellte Vostell, der die Performance in unmittelbarer Nähe zu seinen Werken, die im angrenzenden Raum ausgestellt waren, nicht dulden wollte, den Strom ab, was den Verlauf der Performance jedoch nicht beeinträchtigte.(2) Während der Aufführung am 2. Juli sprühte Klauke Text an die Wand, Joachim Diederichs wollte ihn daran hindern. Im Zusammenhang mit dieser spontanen Aktion ist eine Notiz zu sehen, die sich in den Akten des documenta-Archivs befindet und die Beschädigung eines Sony-Verstärkers entschuldigt.
Ähnlich wie bei seiner ersten Performance 1975 entwickelte Klauke auch seine Performance Im Schatten des Doms im Kontext einer Fotoserie. Die 24teilige Fotosequenz Grüße vom Vatikan, hat die Grenzüberschreitung zwischen kirchlichem und transsexuellem Ritual zum Thema. Tiara, Meßgewand und Krummstab verhüllen die Verkleidung des Maskulinen ins Feminine. Diese werden als Facetten des Selbst vorgestellt, als Möglichkeiten für den Raum des Innenlebens und jenen des äußeren Scheins: »Also Analyse am äußeren Erscheinungsbild, dann an der inneren Tiefenproblematik, zusammen die Suche nach dem ungeteilten Selbst, nach unverfälschter Selbstverwirklichung.«(3) Diese Fotos waren als Diaprojektionen Bestandteil der Performance.
In der Performance wurde die ›Meßfeier‹, ursprünglich eine dem Alltag entlehnte Handlung, wieder in ein Ritual des Alltags zurückgeführt. Indem Klauke die gemeinsamen Grundstrukturen offenlegte, stellte er ihre extreme Gegensätzlichkeit in Frage und verunsicherte konventionelle Wertungen. Die Performance erweist sich als Gleichnis für das Bestreben der Künstler in den 70er Jahren, die Kunstproduktion zu entmythologisieren und das Kunstwerk in den alltagspraktischen Aneignungsprozeß zurückzuholen. Ihre Bedeutung, so faßt Werner Lippert im documenta-Katalog zusammen, ist »die Frage nach der Wirklichkeit: ist das Ritual theatralischer Alltag, ist die Performance theatralisches Ritual oder reale Banalität oder die Inszenierung einer banalen Situation? Performance als Gattungsbegriff wird hier fragwürdig, es sei denn, man akzeptierte ihn als Ausdruck des Manierismus des Alltagslebens.« Klauke versteht die Performance zugleich als Aperçu seiner Erziehung.

  1. Vgl. Georg Schwarzbauer, Performance, in: Kunstforum International, Bd. 24, 1977, S. 39–139
  2. Gespräch am 14. August 2000. Ich danke Marcel Odenbach für diese Hinweise.
  3. Nicht näher gekennzeichneter, maschinenschriftlicher Text aus dem Kontext der Vorbereitungen der documenta-6-Performances,
    documenta-Archiv, Kassel